31. August 2021In Düsseldorf Journal

Von einem der auszog, um zu helfen!

Tagebuch eines unglaublich beherzten & engagierten Fluthelfers im zerstörten Ahrtal

Text und Fotos: Sebastian Reinhardt

Seit der schrecklichen Flutkatastrophe im Ahrtal habe ich die Medien verfolgt. Speziell die Facebookseiten der „Promi-Fluthelfer“ wie Markus Wipperfürth und Wilhelm Hartmann von der Gärtnerei Hartmann haben mich sehr bewegt und nicht mehr losgelassen. Mein Bericht soll vor allem dazu dienen, die Situation der Helfer und der Betroffenen vor Ort zu verdeutlichen und Einblicke in deren Leben und Schicksale zu geben. Es geht mir definitiv nicht um Eigenlob, sondern darum, eventuell noch Unentschlossene aktuell dazu zu bewegen, sich vor Ort einzubringen: Entweder in der Organisation, mit tatkräftiger Hilfe oder indem man Geld spendet. 

Ich heiße Sebastian Reinhardt und wohne in Großenlüder bei Fulda. Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder (2 und 6 Jahre). Beruflich bin ich als Einkäufer bei Getränke Heurich tätig. Eigentlich ein ganz normaler Bürojob. Kollegen, mit denen ich über mein Vorhaben gesprochen habe, waren begeistert.

Das Handwerk wurde mir in die Wiege gelegt. Ich komme vom Dorf, habe mein Haus in Eigenleistung saniert und umgebaut, meine komplette Verwandtschaft besteht aus Landwirten. Bereits in jungen Jahren hat mich mein Vater auf jede Baustelle mitgenommen. Auch er war eigentlich hauptberuflich Bürostuhlfahrer (Fahrdienstleiter bei der DB).

Lange habe ich hin und her überlegt und eine Geldspende auf die Reise geschickt, aber dies alleine hat leider nicht zum Seelenfrieden geführt. Wenn man als Familienvater diese enorme Zerstörung sieht, das Leid der Menschen und der Kinder, dann müssen auch Taten folgen. Mein Wunsch, mich tatkräftig im Krisengebiet einzubringen, wird von der Familie voll unterstützt.

Ein Kontakt über facebook vernetzt mich mit dem Krisenstab in Mayschoß. Hier wird jede helfende Hand benötigt und ich erhalte eine Durchfahrtgenehmigung für die einzig befahrbare Straße durch den Wald runter in den Ort. Am Vorabend meiner Abfahrt belade ich meinen Kombi und einen geliehenen Anhänger mit allem erdenklichen Werkzeug und einer Matratze, so bin ich autark und kann in meinem Hänger übernachten.


1. Tag

Morgens um 06:30 nehme ich Abschied. Eine Woche ohne Frau und Kinder, eine Fahrt ins Ungewisse. Bereits 30 Kilometer vor dem Ziel riecht es massiv nach einem Gemisch aus Abfall und Heizöl. In Mayschoß erwartet mich dann das blanke Chaos. Überall schwere Maschinen, Müll und Schuttberge. Vor den Häusern stehen Container mit Trinkwasser. Die Brunnen sind verschmutzt und das Wasser aus der Leitung, falls nicht zerstört, kann nur als Brauchwasser genutzt werden. Strom erzeugen LKWs mit riesigen Generatoren. Einige Häuser wurden schon abgerissen, andere sind als einsturzgefährdet markiert. Handyempfang – Fehlanzeige!

Der Mayschosser Krisenstab hatte mir eine Einsatzstelle genannt. Da erwartet mich ein älteres Ehepaar (Familie Gerd und Hiltrud Meister). Ein Arzt und eine Berufsschullehrerin im Ruhestand. Die zwei sind überglücklich, dass sie Hilfe bekommen. Das Haus ist ein wunderschönes Fachwerkhaus mit offen liegenden Balken. Sofort ist zu sehen, dass hier viel Herzblut investiert wurde, um aus dem wohl ältesten Fachwerkhaus des Ortes eine wahre Perle zu machen. Leider hat auch hier die Flut ihre Spuren hinterlassen. Mein Gespann kann ich auf dem Nachbargrundstück parken. Das ist kein Problem mehr, denn die Autos sind alle abgesoffen und nicht mehr vor Ort. Das Haus ist mittlerweile freistehend, das Nachbarhaus, ein wunderschöner Schieferbau, ist wohl nicht mehr zu retten und wird wie viele andere ringsum dem Abrissbagger zum Opfer fallen. Der Geruch von Heizöl ist allgegenwärtig. Und Staub – überall Staub, der in jede Ritze kriecht, sich am Schweiß festsetzt, alles in einen Braunton färbt und das Atmen erschwert.

Das Erdgeschoss und der Keller, wo der Schlamm bis zu 40 cm hoch stand, wurde bereits von Helfern gesäubert. Sie haben auch schon das komplette Inventar rausgeräumt: Möbel, Kleidung, Erinnerungsstücke, es ist nichts mehr zu gebrauchen. Alles ist mit Schlamm überzogen, ein zähes Gemisch aus Erde, Wasser und Heizöl. Nahezu alle Häuser im Ort sind auf Heizöl angewiesen, was der Region zum Verhängnis wurde. Die Öltanks hat das Hochwasser rausgeschwemmt, sie liefen aus und kontaminierten die Ahr und damit alles, was überflutet wurde.


Die Besitzer des Hauses waren zum Zeitpunkt des Unwetters glücklicherweise im Urlaub. Als sie Zuhause eintrafen, ließen sich die Türen nicht öffnen, sie waren durch Schlamm und verkeiltes Mobiliar blockiert. Im Erdgeschoss des Hauses gibt es keinen Boden mehr. Die Wassermassen haben die Decke zum Keller durchbrechen lassen. Als erste Aufgabe gilt es die feuchten Decken zum ersten Stock zu öffnen, Dämmmaterial herauszuholen und alles zu entsorgen. Der schiefergemauerte Keller wird mit dem Hochdruckreiniger gereinigt. Das gesamte Haus riecht wie eine Tankstelle, in jeder Ritze klebt Schlamm.In unmittelbarer Nähe befindet sich die Winzergenossenschaft des Ortes. Hier liefern die Winzer ihre Trauben zur Weiterverarbeitung ab. Täglich tummeln sich hier zwischen 80 und 100 Helfer zum Flaschenwaschen und Saubermachen. Maschinen und Weinkeller standen komplett unter Wasser. Hier wird Hilfe noch weiterhin dringend benötigt. In vier Wochen beginnt die Weinlese, bis dahin ist noch viel zu tun. 

In Mayschoß gibt es mehrere Versammlungspunkte, an denen auch kostenloses W-Lan zur Verfügung steht. Die Versorgung der Helfer ist erstklassig. DRK, Bundeswehr, private Helfer, etc, sogar die Ahmadiyya-Gemeide (Muslima) bieten täglich exotische Spezialitäten an. Den ganzen Tag ziehen Leute mit Bollerwagen und Autos durch die Straßen und verteilen Essen und Getränke. Der absolute Wahnsinn. Nach Feierabend trifft man sich an der Kirche, dort stehen Duschcontainer für Anwohner und Helfer bereit. Man geht rein, ist von oben bis unten vom Staub und Dreck braun gefärbt und nach der Dusche fühlt man sich wie neu geboren – die Qualen des Tages sind wie weggewaschen. Zurück an meinem Anhänger will ich mich nur noch auf meine Matratze fallen lassen, da steht plötzlich die Hausherrin vor mir und bittet mich ins Haus. Sie haben zwar aktuell nicht ganz so viel Platz, aber ein kleines Gästezimmer im ersten Stock würden sie mir dennoch gerne anbieten. Ich nehme dankend an. Wir sitzen noch eine Weile zusammen und man kann nur erahnen, was diese Menschen in den letzten Wochen durchmachen mussten. So wurde z.B. die komplette Restaurierung des Hauses durch Maler wurde erst zwei Wochen vor der Flut fertiggestellt.


2. Tag

Ich habe Handyempfang! Zwar kein Internet, aber ich kann wenigstens mit meiner Familie telefonieren. Ich erfahre durch die Besitzer des Hauses, dass sie Großeltern geworden sind. Sie fahren ein paar Tage zu ihrer Tochter nach Köln und entfliehen dem Chaos nach fast fünf Wochen. Die zwei vertrauen mir ihr Haus an. Ich kenne die Familie erst seit ein paar Stunden und sie überlassen mir ihr Haus. Ich soll mich fühlen wie zuhause und darf die Wohnung nutzen, so lange ich möchte. Zu stehlen gibt es sowieso nicht mehr viel. Ich weiß nicht, was ich sagen soll…


Es folgen Stemmarbeiten im niedrigen Gewölbekeller. Bei knapp 30 Grad Außentemperatur sehr kräftezehrend. In den kurzen Arbeitspausen gehe ich durch den Ort und verschaffe mir einen Überblick. Alle Leute sind beschäftigt. Überall Zerstörung und ohrenbetäubender Lärm von schweren Baumaschinen, Aggregaten und Stemmhämmern. Der Sperrmüll und Bauschutt wird mehrmals täglich von den zahlreichen freiwilligen Helfern mit ihren privaten Maschinen entsorgt. Die meisten Maschinen sind nach dem Einsatz wohl reif für die Ausmusterung, hier wird kein Material geschont. Immer wieder platte Reifen und gerissene Hydraulikschläuche – zahlreiche Reifen- und Hydraulikdienste bieten den Havaristen kostenlose Hilfe an. Am Reifen-Point liegen für alle erdenklichen Fahrzeuge Reifen bereit und was nicht kurzfristig verfügbar ist, wird über Nacht organisiert. In Mayschoß funktioniert das Krisenmanagement hervorragend.


Am Nachbargrundstück treffe ich eine kölsche Frohnatur (Maria Martin). Ihr Elternhaus, auch Fachwerk, wurde bisher nur von Hausrat und Schlamm geräumt. Die Frau ist mit der Situation wohl überfordert. Vor der Katastrophe konnte sie sich nicht von den Erinnerungsstücken ihrer Eltern trennen. Das hat die Flut nun innerhalb von Minuten erledigt. Alles weg. Im Haus erwarten mich Lehmwände und Balken mit teilweise dichtem Pilzbewuchs, nasse Böden, nasse Decken, nasse Wände und das knapp fünf Wochen nach der Flut. Ich biete ihr meine Hilfe für den nächsten Tag an, nach Abschluss meiner ersten Baustelle würde ich bei ihr weitermachen. Maria hat sich eine Übergangswohnung in Köln organisiert. Sie arbeitet in der Verwaltung eines größeren Lebensmitteldiscounters und hat hier in Mayschoß keine Möglichkeit ihren Beruf auszuüben, oder Homeoffice zu machen. Morgen muss sie wieder arbeiten. Bereitwillig führt sie mich durch die zwei oberen Stockwerke, die vom Wasser verschont blieben. Ein wunderschönes Fachwerkhaus, das mit viel Liebe zum Detail eingerichtet wurde. Auch sie hat riesiges Vertrauen in mich und überlässt mir den Haustürschlüssel, damit ich arbeiten kann.


Plötzlich steht jemand mit Warnweste vor der Türe und fragt, ob ich zufällig noch ein bisschen Hilfe benötige. Es ist ein Mann vom Helfershuttle, er hat jemanden in blauer THW-Montur im Schlepptau. Die Hilfe kommt mehr als gelegen. Gemeinsam öffnen wir mit Kettensägen die Küchendecke und holen den nassen Lehm zwischen den Deckenbalken heraus.

Nach Feierabend gehe mit dem THW’ler in Richtung Helfershuttle-Sammelstelle. Hier gibt es alles was das Herz begehrt: Jegliche Werkzeuge, Kleidung, Sicherheitsschuhe, Stiefel, Schaufeln und Eimer, sowie Kaffee und Snacks für zwischendurch. Hier ist auch der Sammelpunkt für die privaten Helfer und der perfekte Platz, um Kontakte zu knüpfen. Der so genannte „Arbeiterstrich“ von Mayschoß. Wer Hilfe braucht, findet dort in der Regel alles. Auch die Jungs vom Orgateam des Helfershuttle sind dort beheimatet und so frage ich gleich vier Helfer für den nächsten Tag an.


Der Helfer-Shuttle ist eine rein private Initiative von zwei heimischen Unternehmern, die sich um Transport und Unterbringung der privaten Helfer kümmern, damit die riesige Anzahl von Freiwilligen sinnvoll organisiert wird. Die Homebase dieser genialen Orga-Truppe ist oberhalb des Ahrtals neben dem Haribo-Werk auf der Grafschaft (www.helfer-shuttle.de). Hier können die Helfer campen und werden jeden Morgen, mit Werkzeugen ausgestattet, von Privatleuten runter ins Ahrtal zu den verschiedenen Einsatzstellen gefahren. Diese Autos und Busse sind nach dem Katastropheneinsatz wohl reif für den Schrottplatz, sie sind komplett zerkratzt, zerdellt und auch innen arg mitgenommen.Der Versorgungspunkt an der Kirche ist immer gut besucht. Die Kirche selbst dient als Spendensammelpunkt für Helfer und Anwohner. Hier gibt es alles für den täglichen Bedarf, Essen, Kleidung, Hygieneartikel, etc. sowie Spielsachen für die Kinder, die oftmals ebenfalls alles verloren haben. Überall an den Straßen in den großen Treibguthaufen sind Spielzeuge zu finden. Wenn ich mir vorstelle, dass ich meinen Kindern einfach so die Kinderzimmer ausräume und ihre geliebten Spielsachen wegnehme, überläuft mich ein kalter Schauer.


Am Essensstand treffe ich Gertrude, die Ansprechpartnerin für die Koordination des Versorgungspunktes ist. Gertrude ist bereits eine Dame im Rentenalter. Ununterbrochen kommen Leute auf sie zu und versuchen Dinge mit ihr abzustimmen. Über Umwege habe ich erfahren, dass sie und ihr Mann ebenfalls alles verloren haben. Trotzdem ist sie mit ihm täglich etliche Stunden hier vor Ort und kümmert sich um sämtliche Probleme, Sorgen, Nöte und Anträge. Der Zusammenhalt in dieser außergewöhnlichen Situation ist kaum zu beschreiben. Sie bittet mich, mit ein paar anderen Helfern das Bettenlager im Kindergarten zu räumen. Ein altes mehrstöckiges Gebäude, in dem knapp 100 Feldbetten für die Helfer aufgestellt wurden, die mehrere Tage dort im Einsatz waren. Das Gebäude ist komplett verdreckt. Morgen kommt eine Reinigungsfirma, die die Grundreinigung durchführt, damit die Kinder des Ortes wieder in ihren Kindergarten können. Das Leben muss weitergehen und die Kinder werden sich über ein kleines Stück Normalität freuen.


3. Tag

7:30 Uhr. In Marias kleinem Nebengebäude befinden sich noch zwei Heizöltanks. Am Vorabend habe ich auf dem Arbeiterstrich einen älteren kleinen Mann mit zu einem Zopf gebundenen grauen Haaren kennengelernt. Er ist bereits seit vier Wochen mit einem kleinen angemieteten Hoflader vor Ort und hilft, wo er kann. Ich habe mich mit ihm verabredet, dass er mir heute die zerstörten Öltanks aus dem Grundstück rauszieht. Gemeinsam bergen wir die zwei Tanks. Die Feuerwehr hat sie bereits bis auf einen Bodensatz abgepumpt. Einen Tank nimmt er mit seiner Maschine gleich mit, der zweite wird im Laufe des Tages noch vom THW abgeholt. Um 09:30 stehen meine Helfer vor der Tür. Voll bepackt mit den nötigen Werkzeugen. Zwei junge Pärchen. Eins von einer christlichen Vereinigung, das zweite Pärchen – eine Braumeisterin von Becks, sowie ihr Freund, ein Lebensmitteltechnologe. Ohne lange zu fragen, legen die vier sofort los. Es bedarf keiner Erklärungen. Wände werden abgestemmt, Decken freigelegt und schubkarrenweise Schutt nach draußen gefahren.

Gegen Mittag beobachte ich durch das Küchenfenster im Nachbarhaus ein älteres Ehepaar. Der Mann sieht kränklich aus, die Frau trägt mühevoll halbvolle Eimer mit Bauschutt nach draußen. Plötzlich gibt es einen Stromausfall. Über zwei Stunden kann niemand weiterarbeiten. Wir nutzen die Zeit, um dort alle Räume vom Schutt zu befreien. Von offizieller Seite heißt es später, dass die Aggregate, die ganze Straßenzüge mit Strom versorgen, nacheinander gewartet werden mussten. Durch Gespräche mit THW-Angehörigen wurde dann eine ganz andere Ursache bekannt. Die Betankung der Aggregate wurde durch den Krisenstab von der Bundeswehr auf private Unternehmen umgestellt. Dies hatte zur Folge, dass die Aggregate mangels Kraftstoff nach und nach ausgefallen sind. Wer ist hier für die Organisation verantwortlich?? Kurzerhand improvisieren wir und verlegen Kabel aus einem Nachbarhaus, das über große Bundeswehr Stromaggregate mit Strom versorgt wird, damit wir weiterarbeiten können. In einer Arbeitspause gehe ich zu den Nachbarn und schaue nach dem Rechten. Sie meinten, sie bräuchten vorerst keine Hilfe, sie hätten schon fünf Helfer angefordert. Leider kam aber niemand und die zwei mühten sich beim Entkernen wahnsinnig ab. 

Nach Feierabend bin ich nochmal rüber. Die Frau – eine kleine Belgierin und ihr Mann, Dialysepatient. Die zwei haben sich in Belgien kennen gelernt. Ein wirklich tolles Pärchen. Sie unterhalten sich untereinander nur auf Französisch. Wie Maria mussten sie sich eine Übergangswohnung suchen, das Haus ist unbewohnbar und die schlechten Straßen raus aus dem Ahrtal lassen eine regelmäßige Fahrt zum Dialysezentrum zur Odyssee werden. Auch sie haben mich durchs Haus geführt. Ich war geschockt. Es herrscht eine extreme Luftfeuchtigkeit und die Wände sind bereits vom Schwarzschimmel befallen. Es stank bestialisch. Auf den Gutachter der Versicherung warten sie seit Tagen vergeblich. Es müssten erst Feuchtigkeitstests von einem Gutachter durchgeführt werden, hieß es. Der Estrich ist teilweise gebrochen und hat sich nach oben gebogen. Hier wäre Hilfe dringend notwendig. Ich habe daraufhin auch hier meine Hilfe angeboten, und auch hier war das Vertrauensverhältnis sofort gegeben. Augenblicklich hatte ich den Haustürschlüssel in der Hand. Ich hatte auf Baustelle 2 noch einen halben Tag Arbeit, dann konnte ich die neue Baustelle in Angriff nehmen. Zum Glück habe ich noch das Pärchen von der christlichen Vereinigung im Ort getroffen und konnte ihnen den Sachverhalt schildern. Sie hatten für den Folgetag zugesagt und wollten noch zusätzliche Helfer organisieren. Zur Sicherheit hatte ich noch 6 Helfer über den Helfershuttle angemeldet.

Irgendwie hat es sich an diesem Tag herumgesprochen, dass ich vor Ort bin. Mein Handy klingelt und ich werde gebeten, mir noch eine andere Baustelle im Ort anzuschauen. Pünktlich zum Feierabend hat strömender Regen eingesetzt. Nichtsdestotrotz habe ich zugesagt. Beim Gang durch den Ort sieht man immer wieder Menschen, die besorgt gen Himmel schauen. Die große Angst vor Wasser und neuem Starkregen ist allgegenwärtig.Als ich in der Dorfstraße ankomme, läuft mir bereits das Regenwasser aus der Hose. Der einzige Vorteil – es ist staubfrei. Endlich wieder frei durchatmen. Kein Staub, der bei jedem vorbeifahrenden Auto, bei jedem Windstoß riesige Staubwolken aufwirbelt. Vor Ort ein älteres Ehepaar mit Tochter, die verzweifelt versucht, ihren Vater davon zu überzeugen, dass dringend etwas am Haus passieren muss. Der Vater selbst ist lungenkrank. Ich habe die Familie 45 Minuten beraten und mich dann unverrichteter Dinge verabschiedet mit dem Angebot, dass sie sich melden sollen, wenn sie es sich überlegt haben.

Duschen muss bei diesem Regen ausfallen. Ich habe keine Lust mehr, noch zweimal quer durch den Ort zu laufen. Nur noch etwas essen, Katzenwäsche und ab ins Bett. Gerade als ich mich mit vollem Teller an den Tisch setze, klingelt wieder mein Handy. Die Familie hat sich entschieden, es soll entkernt werden. Ich kann jedoch noch keinen Termin sagen, da ich ja erst noch die andere Baustelle fertigstellen muss. Mein Telefonat haben zwei Zimmermänner mitgehört, die mir gegenübersitzen. Sofort bieten sie an, die Baustelle am Folgetag zu übernehmen. Auf dem Heimweg habe ich die Jungs noch mit dem Hausherrn bekannt gemacht. Um 07:00 Uhr am nächsten Morgen standen sie auf der Matte und haben das Haus zwei Tage lang auf den Kopf gestellt. Respekt!


4. Tag

Zum Tagesbeginn kennzeichne ich auf den beiden Baustellen, die jetzt parallel laufen, die zu bearbeitenden Stellen mit Markierspray und prüfe die Böden auf ihre Beschaffenheit. Pünktlich wie immer kommen die Helfer. Ich bin völlig überrascht – positiv überrascht – denn an diesem Morgen stehen 12 Helfer vor mir und wollen die Baustellen rocken. Drei Mann machen Restarbeiten bei Maria, die anderen fallen auf der neuen Baustelle ein. Das Haus bebte. Mit drei großen und fünf kleinen Stemmhämmern fliegt der Dreck nur so aus Fenstern und Türen. An diesem Tag sind zwei Frauen um die 50 mit im Team. Die zwei arbeiten bis zum Umfallen. Schubkarre um Schubkarre wird vollgeschaufelt und der Bauschutt nach draußen in den Hof befördert. Auch Bauprofis sind diesmal mit dabei. Ein Sanitärinstallateur, der sich neben den Stemmarbeiten um die Deinstallation von Heizungsanlage und Heizkörpern kümmert, ein ehemaliger Bauschlosser und ein ehemaliger Elektriker. Der Elektriker und sein Kumpel haben mich bis zu meiner letzten Baustelle begleitet, die zwei waren ein unschlagbares Gespann. Auch ein Bankkaufmann im Vorruhestand ist mit dabei. Nicht immer einfach, aber an Ordnung und Sauberkeit, wenn man erst einmal alles genauestens erklärt hat, nicht zu überbieten. Den ganzen Tag hat er eine Wand nach der anderen mit stoischer Ruhe in mühsamster Kleinarbeit abgestemmt.

Auch das Braumeister/Lebensmitteltechnologen-Pärchen ist wieder mit dabei. Diese zwei haben mich heute besonders überrascht. Sie sind morgens noch vor Abfahrt des Helfershuttle bei Haribo in einen Baumarkt gefahren und haben dort Maschinen im Wert von knapp 400 € gekauft, die sie nach getaner Arbeit an mich übergeben, damit ich sie am Tag meiner Abreise an Personen weitergebe, die sie benötigen. Beim Mittagessen an der Kirche bei der Ahmadiyya Gemeide (die machen hervorragendes Essen), war das ZDF vor Ort und befragte die Leute, was sie zum zurückgetretenen Landrat zu sagen hätten. Als wenn es aktuell nichts Wichtigeres gäbe. Warum berichtet niemand mehr über die Betroffenen?? Nach der Mittagspause kommt die Nichte von Maria vorbei. Sie wohnt in der Nachbarschaft und zeigt uns Vorher/Nachher-Bilder. Das Maß der Zerstörung ist schrecklich. Wo vorher ein absolutes Idyll – ein Garten mit grüner Wiese, Pool, Palmen und rundherum Häuser – war, ist jetzt nur noch eine braune schlammige Brachfläche.


Die Nichte erzählt, wie sie den Abend erlebt hat. Maria war bei ihr, als die Flut kam. Im dritten Obergeschoss haben sie zusammen gewartet, bis es vorüber war und das Wasser wieder sank. Sie berichtet von Schreien, zusammenbrechenden Häusern, tosendem Wasser und aus dem Nachbarort. Da haben Anwohner eine Nachbarin über Stunden auf dem Dach um Hilfe rufen hören. Dann war plötzlich Ruhe. Tage später hat man sie tot im Treibgut gefunden. Besonders berührt hat mich auch die Geschichte ihrer jüngsten Schwester, die mit ihrem Wohnhaus eingebrochen und in die Fluten gestürzt war. In der Flutnacht stand sie um 2 Uhr vor ihrem Kleiderschrank, um einen Evakuierungs-Rucksack zu packen, als es krachte und der Fußboden unter ihr nachgab. Sie wurde im Stockdunkeln von Höhe des Winzervereins bis zum Ortsausgang mitgerissen und dort gegen den Berg getrieben. Diesen Moment hat sie nutzen können, um sich irgendwo festzuhalten und aus dem Wasser zu kriechen. Dort am Hang hat sie die ganze Nacht ausgeharrt, bis es hell wurde. Morgens ist sie über den Berg in Richtung Kirche gelaufen. Dort wurde sie von einer Frau aus dem Dorf gefunden und mitgenommen. Erst am nächsten Nachmittag hat sie vom Schicksal ihrer Schwester erfahren, konnte sie aber weder telefonisch noch zuhause (was es ja nicht mehr gab) erreichen. Die einzige Straße, die durch Mayschoß führt, wurde vor und hinter dem Ort von der Flutwelle zerstört. Mayschoß war dadurch von der Welt abgeschnitten und in den ersten Tagen konnten die Evakuierungsmaßnahmen nur per Hubschrauber erfolgen. In den Folgetagen wurden Lebensmittel und Trinkwasser eingeflogen. Für mich nach wie vor unvorstellbar, obwohl ich doch die Zustände vor Ort selbst erlebt habe und jetzt hier mein Tagebuch schreibe.

Gegen Mittag ist Marias Baustelle abgeschlossen und die drei Helfer kommen zur Verstärkung rüber zu meiner Baustelle Nr. 3, bei den „Franzosen“. Zusammen haben wir es geschafft, auch diese Baustelle innerhalb eines Tages zu 50% abzuschließen. Gemeinsam haben wir zwei LKWs Bauschutt aus dem Haus geräumt, die natürlich wieder von meinem kleinen grauhaarigen Freund mit seinem Radlader abgeholt wurden. Sein Kollege mit dem LKW schaute überwiegend grimmig, ein Gespräch mit ihm kam kaum zustande. Er ist mit seinem LKW, dem man die Strapazen ansieht, bereits seit vier Wochen vor Ort… sieben Tage in der Woche fährt er bis zu 30 Ladungen Müll und Bauschutt auf die Zwischendeponien im Ort. Irgendwie kann man ihn verstehen. Der Tag war sehr zufriedenstellend. Zum Abschluss erhalte ich von meiner Truppe die frohe Botschaft, dass neun von 12 Helfer morgen weiter hier sein können. Dann wäre die Baustelle geschafft. Wir rocken das Haus!! Telefonisch berichte ich den Hausherren den aktuellen Baufortschritt. Sie wissen nicht, was sie sagen sollen.


5. Tag

Bevor die Helfer kommen, tauchen die Hausherren auf der Baustelle auf. Der Mann war gestern bei der Dialyse. Ich führe das Pärchen durch das Haus. Der kleinen Französin verschlägt es die Sprache, die Tränen laufen. „Ihr seid magnifique“ (herrlich). Die zwei können ihr Glück nicht glauben. Meine Mannschaft ist wieder pünktlich zur Stelle. Wir verlegen zusätzliche Stromkabel von Maria rüber, um den allgemeinen Baustrom mit unseren vielen Maschinen nicht zu überlasten. Wir legen sofort los, jeder weiß genau, was zu tun ist. Gegen Mittag kommt Klaus vorbei. Er wohnt mit seiner Familie in dem Mehrfamilienhaus gegenüber meiner ersten Baustelle im Obergeschoss und ist der Mann von Marias Nichte (irgendwie sind hier im Dorf alle miteinander verwandt). Seine Wohnung ist zwar verschont geblieben, jedoch waren sie auch ohne Strom. Heizung/Warmwasser gibt es in kaum einem Haus. Der Keller ist vollgelaufen und sein komplettes Werkzeug, ein erst vor vier Wochen gekauftes Werkzeugset – noch original verpackt – ist jetzt Elektroschrott. Sein Elternhaus im benachbarten Marienthal hat es voll erwischt. Das Haus ist bis in den ersten Stock vollgelaufen. Ich sehe Klaus jeden Morgen alleine mit seinem „Weinbergauto“ in Arbeitsmontur wegfahren. Das Auto stand laut seiner Aussage zum Glück noch im Weinberg, als das Wasser kam. Sein anderes Auto ist in der Garage vollgelaufen. Die Geschichte zu seinem Elternhaus erfahre ich erst später an diesem Abend. Voraussichtlich bekommen wir die „französische“ Baustelle heute fertig. Ich biete ihm daher an, ihn in den verbleibenden zwei Tagen zu unterstützen.

Die Mannschaft leistet volle Arbeit. Gegen Feierabend haben wir die Baustelle abgeschlossen. Estrich und Fußbodenheizung rausgerissen, Wände vom Putz befreit, Heizöltanks freigelegt, Heizung und Heizkörper demontiert. Im Hof türmt sich der Bauschutt. Plötzlich höre ich draußen ein bekanntes Geräusch. Meine Freunde, der bezopfte grauhaarige Radladerfahrer und der grimmige LKW-Fahrer, stehen auf der Straße und fangen unaufgefordert an, einen LKW nach dem anderen zu laden. Zum Schluss sind es heute knapp 3 LKWs Bauschutt. Sogar die defekte Ölheizung wurde aufgeladen. Beim Aufräumen taucht plötzlich Maria auf. Sie ist nach der Arbeit aus Köln gekommen und will sich den Fortschritt anschauen. Nachdem ich sie durch ihr fertig entkerntes Haus geführt habe, fällt sie mir um den Hals und die Tränen laufen. Ohne die vielen Helfer hätte sie den Abrissbagger bestellt, war ihre Aussage. Jetzt hat sie wieder Zuversicht und kann in die Zukunft schauen. Gegen Mittag kamen die Meisters vom Babyurlaub zurück. Zwei Nächte würde ich noch bei ihnen schlafen, hatte ich angekündigt. Das sei kein Problem. Beim Abendessen an der Kirche konnte ich mich mit einem Truppführer des THW unterhalten. Er war sehr demotiviert. Seine Jungs hätten keine konkrete Aufgabe. Die einzige Aufgabe lautet „Präsenz zeigen“. Die Koordination der offiziellen Helfer scheint, rund fünf Wochen nach der Katastrophe, immer noch nicht zu funktionieren – verantwortlich für die Koordination ist der Krisenstab des Landes Rheinland-Pfalz, die Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD)…

An diesem Abend sitze ich noch länger mit den Meisters zusammen. Es sind zwei wirklich fabelhafte Personen. Von ihnen erfahre ich auch die Hintergründe zum Elternhaus von Klaus. Sein Elternhaus hat es wie bereits beschrieben, bis in den ersten Stock erwischt. Sein Vater war nach vier Schlaganfällen gelähmt und hat bei der Flut sein Leben gelassen. Ein Grund mehr für mich, hier in den letzten zwei Tagen noch einmal besonders viel Kraft und Energie zu investieren, um Klaus zu unterstützen. 


6. Tag

Mit Klaus laden wir mein Werkzeug, das sich mittlerweile auf 3 Häuser verteilt, in mein Auto und er lotst mich nach Marienthal. Der Weg dorthin ist schockierend. Ich bin ja bisher aus „meiner Straße“ (Bungertstraße) nicht wirklich herausgekommen. Auf der Strecke von ca. 5 km überall ein Bild der Verwüstung. Komplett zerstörte Häuser, Häuser ohne Dächer, Eisenbahnschienen, die wie Lametta in der Luft hängen. Massive Eisenbahn-Stahlbrücken sind in der Mitte auseinandergerissen worden. Die andere Hälfte liegt 100 Meter weiter am Rand des Flusslaufs. Die Fundamente sind nicht mehr zu sehen. Weggespülte Straßen, zerstörte Autos am Wegesrand und eine Vielzahl der Häuser ziert in übergroßen Lettern ein „NO GO“. Das heißt, die Häuser sind einsturzgefährdet und werden in absehbarer Zeit nicht mehr vorhanden sein. Für mich stellt sich die Frage: Wo sind die ganzen Bewohner?? Marienthal wurde massiv getroffen. Kaum ein Haus ist unbeschadet. Überall stand das Wasser weit bis in das erste Obergeschoss. Im Vergleich zu meiner jetzigen Einsatzstelle war die Bungertstraße gelobtes Land. Klaus schließt die große Eingangstür im Erdgeschoss zum ehemaligen Winzerlokal auf, und ich verschaffe mir einen ersten Überblick. Hier hat sich bereits einiges getan, aber auf einer Fläche von über 100m² pro Stockwerk ist noch wahnsinnig viel Arbeit.


Zum Glück konnte ich auf meiner letzten Baustelle noch einige Helfer für die Arbeit in Marienthal gewinnen. Unglaublich, sie haben noch weitere Unterstützer im Camp gefunden und kommen nun mit einem Bus an. Marienthal wird vom Helfershuttle leider nicht direkt angefahren. Die Helfer hierher zu bekommen, war wirklich nicht einfach.Wieder haben wir alle zu bearbeitenden Wände, Decken und Böden mit Markierspray gekennzeichnet, sodass gleich losgelegt werden kann. Die Decke im Erdgeschoss ist an zwei Stellen eingestürzt. Sie wurde vom THW schon abgestützt, sodass wir gefahrlos arbeiten können. Diese Sicherungsaktion hat die Entkernungsarbeiten aber um eine Woche verzögert. Kostbare Zeit, die das Gebäude in der Zwischenzeit schwer geschädigt hat, wieder überall Schimmel. Hinter dem großen Anwesen befinden sich noch ehemalige Stallungen und Scheunen. Hier sieht es noch aus, wie am ersten Tag. Die Wände zieren das „NO GO“-Logo. Die Gebäude sind nicht mehr zu betreten und fallen dem Bagger zum Opfer. Überall Schlamm, eingefallene Decken und verstreuter Hausrat. Unvorstellbare Bilder, die man so schnell nicht vergisst. Aber draußen an der Hauptstraße fährt ein Bundeswehr-LKW nach dem anderen vorbei. Später stellt sich heraus, dass die Bundeswehr abgezogen wird. Eine Situation, die in keiner Weise nachvollziehbar ist. Hat sich der Krisenstab hier jemals umgeschaut??“

Klaus geht mit der Situation sehr gefasst um. Dass sein Vater in diesem Haus vor ein paar Wochen das Leben gelassen hat, hat er wohl noch nicht realisiert. In einer kurzen Arbeitspause erzählt er mir ein Geschehen aus dem Nachbarort. Hier waren zwei Häuser zusammengestürzt. Als einer der privaten Baggerfahrer nach 14 Tagen an der Außenwand arbeitete, wurden neben Schlamm und Hausrat die Bewohner aus dem Haus gespült. Ein Vater, eine Mutter und zwei Kinder. Bei solchen Geschichten stehen einem sämtliche Nackenhaare zu Berge. Die Maschinenführer hier vor Ort machen ihre Arbeit aus privater Motivation heraus und aus reiner Nächstenliebe, genau wie auch ich. Sie stellen Manpower und ihre Maschinen zur Verfügung. Keiner ist auf solche Situationen wirklich eingestellt. Viele Baggerfahrer graben Kinderpuppen, oder angezogene Schaufensterpuppen mit ihren Maschinen aus den Schwemmgut- und Müllbergen aus. Das ist ein Schock fürs Leben. Viele sehen bereits Gespenster und können ihre Arbeit nicht mehr ausüben. Man kann sich nicht ansatzweise in die Betroffenen einfühlen. 18:00 Uhr – der Helfershuttle holt die Helfertgruppe an der Haustür ab. Hinter dem Haus ist ein Holzfällertrupp aus der Schweiz angekommen. Um an die Abrisshäuser zu gelangen, müssen noch sechs riesige Tannen gefällt werden. Die drei Männer und eine Frau haben die sozialen Medien verfolgt, ihre Sachen gepackt und sind nach Deutschland gekommen, um zu helfen. Ihre kühnsten Erwartungen wurden laut ihrer Aussage weit übertroffen. Meinen größten Respekt. Als wir am anderen Tag auf die Baustelle kommen, sind die Schweizer weg und die Tannen gefällt.


Nach Feierabend ein letztes Mal duschen im Container, ein letztes Abendessen zusammen mit den anderen Helfern an der Kirche. Es ist ein komisches Gefühl, morgen nach Hause zu fahren. Es ist noch so viel zu tun und die Zahl der Helfer wird immer weniger. Zurück in meiner Unterkunft auf meiner ersten Baustelle, packe ich meine Taschen zusammen und genieße die letzten Stunden mit den Meisters. Heute waren Zimmerleute auf der Walz bei ihnen und haben im Erdgeschoss provisorisch neue Holzbalken eingezogen und sie mit Dielen beplankt. Jetzt kann man das Erdgeschoss wieder gefahrlos betreten. Ich hoffe, ich sehe meine beiden Gastgeber und die anderen Bewohner der Bungertstraße irgendwann wieder. Die Straße und die Menschen sind mir ans Herz gewachsen. Als Dankeschön haben die Meisters für mich und meine Familie eine Überraschungstüte gepackt. Eigentlich wollte ich nichts mitnehmen, aber ich sage trotzdem tausend Dank für die tollen Erinnerungen.


7. Tag

Um 8:00 Uhr treffe ich vor dem Haus auf Klaus, der bereits mit seinem Weinbergauto auf mich wartet. Ich räume meine Taschen ins Auto und verabschiede mich von den Meisters. Die Tränen stehen allen in den Augen. Es fällt schwer, heute nach getaner Arbeit die Heimreise anzutreten. Kaum an der Baustelle eingetroffen, stehen auch schon die Helfer in der Türe und haben sogar noch zusätzliche Helfer mitgebracht. Heute wird die Baustelle abgeschlossen. Es sind noch Decken zu öffnen, restlicher Putz an den Wänden zu entfernen und jede Menge Bauschutt aus dem Haus zu schaffen. Plötzlich entsteht in der alten Küche der ehemaligen Weingaststätte Panik. Nach dem Entfernen der heizölgetränkten Heraklith-Platten an der Decke läuft plötzlich Wasser aus einem freigelegten Rohr. Bei genauerer Begutachtung stellen wir fest, dass es sich um ein Leerrohr handelt, dass auch nach fast fünf Wochen noch mit Wasser gefüllt ist. Kurze Zeit später führt Klaus eine grauhaarige ältere Frau, seine Mutter, durch das Haus. Ich komme mit ihr ins Gespräch. Sie erzählt mir, wie sie den Tag der Katastrophe erlebt hat. Als die Flut kam, befand sie sich im ehemaligen Weinlokal. Die Welle durchbrach die großen Panoramafenster. Tische und Stühle wirbelten durch den Raum. Sie wäre beinahe ertrunken. Mit letzter Kraft rettete sie sich in das erste Obergeschoss, zu ihrem bettlägerigen Mann. Vollgepumpt mit Adrenalin schaffte sie es, ihren Mann aus dem Bett zu holen und drei Treppenstufen nach oben zu ziehen. Alle Anstrengung half jedoch nicht, denn ihr Mann verstarb in ihren Armen. So blieb sie bei ihrem verstorbenen Mann, bis das Wasser auf Brusthöhe zurückgegangen war. Dann verließ sie das Haus ohne Schuhe, nur mit Unterhose und T-Shirt bekleidet, um Hilfe zu holen. Sie ging über den Berg in das Nachbardorf, wo sie auf Bundeswehrsoldaten traf, die mit ihr zusammen zu ihrem Haus fuhren und ihren Mann aus dem zerstörten Gebäudekomplex bargen.

Klaus wusste fünf Tage nicht, wie es seinen Eltern ging und wo sie waren. Dann fuhr ein Bundeswehrfahrzeug am Haus vorbei und hielt an. Ein Soldat fragte, ob er der Sohn sei. Dann brach er in Tränen aus und drückte ihm sein Beileid aus. Er habe mit einem Kameraden zusammen seinen Vater würdevoll aus dem Haus getragen. Diese Geschichten machen einen sprachlos. Genau diese Geschichten bekräftigen meinen Entschluss, hier in dieser Region zu helfen. Einer Region, in der noch sehr viel Hilfe benötigt wird. Über Wochen, Monate und Jahre.Der nächste Winter steht vor der Türe, die Häuser sind nach wie vor nass und unbewohnbar. Wie sollen es die Menschen in den nächsten Wochen schaffen, ihre Häuser auf den bevorstehenden Herbst und Winter vorzubereiten? Es mangelt an Bautrocknern, Elektrogeräten wie Kühlschränken, Waschmaschinen, Wäschetrocknern etc. Heizsysteme sind ebenfalls nicht vorhanden. Was ist die richtige Energiequelle für die Zukunft? Wieder Öl oder worauf kann man kurzfristig und auch nachhaltig umrüsten? Fragen über Fragen. Es werden auch noch so viele Helfer gebraucht, um diese Region wieder genauso schön werden zu lassen, wie sie vorher einmal war. Zusätzlich werden Unmengen an Fachkräften und Baumaterial benötigt. Ich hoffe für alle Beteiligten, dass der Strom der Helfer nicht abreißt.

7. Tag,16:30 Uhr. Heute werden die ersten Helfer bereits früher abgeholt, da es für manche der Abreisetag ist. Wir haben das Haus bis auf anderthalb Zimmerdecken komplett geschafft. Aber auch das wird morgen erledigt, denn aus der Gruppe an Helfern haben sich sofort wieder einige gefunden, die am Folgetag die Baustelle fertigstellen werden. Danach wird ein Blick über die Straße genügen und die nächsten hilfsbedürftigen Familien sind in Reichweite. Auch ich verabschiede mich nun von den Menschen in Marienthal. Es fällt mir unglaublich schwer, hier einfach aufzubrechen, aber ich habe auch eine Familie zuhause, die ihren Papa und Ehemann gerne wieder an ihrer Seite hat. Nach einer Woche unermüdlicher Arbeit sind ehrlicherweise auch meine Kräfte irgendwann aufgezehrt.

Ich gehe zum Duschcontainer, es gibt nur eine Katzenwäsche, bevor ich mich auf die Heimreise mache. Als ich zurückkomme, steht plötzlich Maria vor mir und zwängt einen Karton Flutwein und 2 Flaschen Traubensaft für meine Kids in mein Auto. Vielen Dank dafür. Mit Tränen in den Augen und einem dicken Kloß im Hals setze ich mich in mein Auto und fahre in Richtung Autobahn. Auf dem Weg dahin fahre ich über die provisorisch mit Schotter aufgeschüttete Bundesstraße. Wege, Brücken, Straßen, alles zerstört. Kurz vor Ahrweiler komme ich noch am Tross der großen Baumaschinen, die auf der Bundesstraße stehen vorbei. Ein Tieflader nach dem anderen. Es ist der pure Wahnsinn, was die freiwilligen Helfer rund um Wipperfürth, Azubi Hartmann, Zintel & Co. hier leisten.

Um 20:00 Uhr biege ich in meine Heimatstraße ein. Kurz vor meinem Haus drücke ich auf die Hupe. Mein Großer steht schon mit dem Fotoapparat in der Einfahrt und wartet. Sofort geht die Haustüre auf und meine Frau mit meinem kleinen Sohn kommt aus dem Haus gestürmt. Mir kommen die Tränen. Endlich wieder zu Hause.

Gemeinsam packen wir noch die Tüte von Meisters aus. Lauter kleine Überraschungen für meine Kids und ein ganz ganz lieber persönlicher, handgeschriebener Brief von meinen zwei Engeln aus Mayschoß. Meine Frau hat es vor Rührung nur bis zur Hälfte geschafft, den Brief vorzulesen. Es ist ergreifend.


Ich werde diese Zeit nie vergessen und kann nur appellieren: 
Wenn Ihr die Möglichkeit habt es mir gleich zu tun, 
dann fahrt ins Ahrtal und helft. 
Es ist eine Erfahrung fürs Leben.


Spenden sind herzlich willkommen!

Für Wipperfürth, Hartmann, Zintel & Co.
Kontoinhaber: Kreisverwaltung Ahrweiler
Spendenkonto „Nachbar in Not“
IBAN: DE86 5775 1310 0000 3394 57

Spendenkonto „Nothilfe Mayschoß“
IBAN: DE29 3916 2980 1017 1970 25
BIC: GENODED1WUR

Auf Wunsch stellt die Bürgerstiftung Herzogenrath eine Spendenbescheinigung aus: Martina.Mertens@Herzogenrath.de


Titelfoto: Entlang der Ahr stehen in Mayschoß nur noch Ruinen. Ein Anblick, der ins Herz schneidet.

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