17. Juli 2022In 2022/2

„Heute ist es unsere friedliche und freiheitliche Lebensweise in Europa, für die ich mich mit ganzer Kraft einsetze“

Interview mit Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann, MdB, Mitglied des FDP-Bundesvorstands

von Dr. Siegmar Rothstein 


In diesen Monaten gibt es vor allem ein Thema, den brutalen Überfall Russlands auf die Ukraine. Haben Sie sich vor dem Angriff vorstellen können, dass Putin zu derartigen Maßnahmen fähig ist, wenn man auch feststellen muss, dass er schon früher mit hohen Zustimmungsraten und angeblich gerechtfertigt mit dem Schutz russischer Landsleute Kriege in Tschetschenien, Georgien, Annexion der Krim und Syrien geführt hat? 

Vorstellen konnte ich es mir spätestens seit Russlands völkerrechtswidriger Annexion der Schwarzmeerhalbinsel Krim und dem ersten schweren Angriff auf die Ostukraine. Dort sind übrigens bis Ende 2021 ca. 15.000 Menschen ums Leben gekommen. Als Wladimir Putin im Laufe des Jahres 2021 immer mehr Truppen an die Grenze zur Ostukraine verlegen ließ, hat sich die Lage noch einmal dramatisch verschlechtert. Er hat ganz unverhohlen mit einem militärischen Eingreifen dort gedroht, weil Russlands Militärdoktrin eine Intervention zum angeblichen Schutz seiner Staatsbürger im Ausland erlaubt. Perfide, der Ukraine zu unterstellen, sie würde von Nazis regiert. Niemand konnte also wirklich überrascht davon sein, denn es hat sich schleichend, aber deutlich angebahnt. 

Es wird wahrscheinlich zurecht angenommen, dass Putin sich verkalkuliert hat. Unter anderem wollte er wohl die Nato schwächen. Die Nato wird im Gegenteil dadurch stärker, dass Finnland und Schweden als Antwort auf Russlands Angriff dem Bündnis beitreten werden. Nicht nur der Ukraine, sondern auch seinem eigenen Land hat Putin erheblichen Schaden zugefügt. Könnte es sein, dass er selbst durch den Krieg sein politisches Ende eingeläutet hat? Die offenbar vorhandene Zustimmung der Mehrheit in Russland zu seinem Handeln könnte demnächst nachlassen. 

Wladimir Putin hängt seinen imperialistischen Großmachtfantasien nach. Deshalb kann ich mir eine Rückkehr zur regelbasierten Friedensordnung in Europa, wie wir sie nach dem Ende des Kalten Krieges erreicht haben, mit einem Russland mit Wladimir Putin an der Spitze nicht vorstellen. Das heißt im Umkehrschluss: Einen dauerhaften Frieden kann es nur ohne Wladimir Putin geben. Ein Neuanfang muss aber auch vom russischen Volk gewollt sein. Leider gibt das einzige vom russischen Staat unabhängige Meinungsforschungsinstitut derzeit an, dass die Zustimmungswerte für Wladimir Putin seit dem völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine noch um 20 Prozent gestiegen sind. Da Wladimir Putins Russland aber faschistisch-autoritär regiert wird, trauen sich viele Menschen auch nicht zu sagen, was sie wirklich denken. Deswegen sind die Wirtschaftssanktionen so elementar wichtig. So merkt auch die russische Gesellschaft, dass Putins Krieg auch mit ihnen etwas macht. Wladimir Putin hat die Ukraine auch überfallen, um von den großen innenpolitischen Problemen abzulenken, vor allem aber aus Angst vor dem Drang nach Freiheit. Er weiß, wenn es den Ländern der russischen Föderation wirtschaftlich besser geht, sobald sie sich dem Westen zuwenden, dann wird auch in Russland die Frage gestellt, warum es den meisten Russen wirtschaftlich miserabel geht. Das gilt es für ihn zu verhindern, auch und besonders in der Ukraine. 

Der Bundestag hat im Einklang mit dem geltenden Völkerrecht beschlossen, die Ukraine militärisch zu unterstützen, auch mit sogenannten schweren Waffen, damit sie sich verteidigen und als freier und unabhängiger Staat weiter existieren kann. Sie gehörten zu denjenigen, die als erste diese Unterstützung forderten. Sind Sie damit einverstanden, wie die Bundesregierung seit Beginn des Krieges agiert? 

Zufriedenheit ist keine politische Kategorie. Meiner Meinung nach ist noch deutlich Luft nach oben, was die Unterstützung der Ukraine betrifft. Wir haben bereits eine Menge getan, aber angesichts der Brutalität des Krieges, des Ermordens unschuldiger Menschen, der Vergewaltigung von Frauen und Verschleppung von Kindern müssen wir nicht nur mehr tun, sondern auch schneller handeln und bereits jetzt die Zukunft angehen. Es ist gut, dass der Bundeskanzler kürzlich angekündigt hat, weiter schwere Waffen in die Ukraine liefern zu wollen. Aber gemessen werden wir am Handeln nicht an Worten. Dazu gehört, dass die Kommunikation über das, was Deutschland macht, besser klappen muss. Selbstverständlich reden wir nicht über gerade logistisch laufende Waffenlieferungen, aber es macht Sinn, dass im Nachhinein erklärt wird, was wir getan haben. Wir müssen die Menschen mitnehmen, unsere Entscheidungen erklären und dürfen sie vor allem nicht mit ihren Ängsten allein lassen. Dieser Krieg hebt die gesamte Welt aus den Angeln. Der Ausgang der Kämpfe entscheidet darüber, ob unsere wertebasierte Welt Bestand haben wird oder in Zukunft der Stärkere obsiegt. 

Sind die Lieferung von Waffen und die beschlossenen Sanktionen die allein mögliche Antwort auf den Überfall? In der Öffentlichkeit wird von mehreren Seiten gefordert, daneben den Weg der Diplomatie zu beschreiten, der nach dieser Ansicht in den Hintergrund getreten sei. Es wird befürchtet, dass eine derartig massive Unterstützung der Ukraine auch für uns Folgen haben könnte, vielleicht sogar mit atomaren Waffen. Kann aber diese Furcht letztlich unser Handeln bestimmen? 

Wir sollten uns das Narrativ des dritten Weltkrieges oder eines Atomkrieges, das von Putin bewusst lanciert wird, nicht zu Eigen machen. Natürlich ist die Lage extrem ernst. Wir wissen, dass Putin zu vielem fähig ist. Trotzdem empfehle ich Ruhe zu bewahren. Wir sollten nicht aufgrund seiner verbalen Bedrohungsszenarien gelähmt sein und wie das Kaninchen vor der Schlange sitzen. Wegen des Grauens in der Ukraine und weil es auch darum geht, unsere friedliche, demokratische und freiheitliche Lebensweise in Europa zu verteidigen. 

Zurzeit ist keine Tendenz für eine Deeskalation erkennbar. Es setzt sich daher immer mehr die Ansicht durch, dass die Auseinandersetzung nicht schnell beendet wird und sich ein mörderischer Abnutzungskrieg mit vielen Opfern auf beiden Seiten entwickelt. Ist es also eine Utopie zu hoffen, dass es bald wenigstens einen Waffenstillstand gibt mit der beiderseitigen Hoffnung, irgendwann in der Zukunft eine Lösung zu finden? 

Einen Waffenstillstand wird es erst dann geben können, wenn Wladimir Putin erkennt, dass er die Ukraine nicht militärisch besiegen kann, und er seine Truppen zurückzieht. Gerade deshalb ist es auch so wichtig, dass wir gemeinsam mit den internationalen Partnern die Ukraine weiter militärisch unterstützen. Wladimir Putin möchte die Ukraine schlichtweg auslöschen. Von der Landkarte streichen. Darauf kann es keine wirklich diplomatische Antwort geben und schon gar keinen Kompromiss. Ein vermeintlicher Kompromiss hieße, dass Putin einen Teil der Ukraine bekäme. Das darf nicht passieren. 

Welchen Preis werden wir im Hinblick auf den Krieg in Europa zahlen müssen? Wird sich unser Leben verändern? 

Viele Gewissheiten gehören der Vergangenheit an. Ein solcher Krieg in Europa berührt uns alle&&auch wirtschaftlich. Jedes Land in Europa wird seinen Beitrag dazu leisten müssen. Frieden in Freiheit hat seinen Preis. Die Ukraine kämpft in diesem Augenblick nicht nur für ihre, sondern für die Freiheit Europas. 

In den vergangenen Jahren gehörte es geradezu zu unserer Staatsräson, gute Beziehungen mit Russland anzustreben und dieses Land in die europäische Friedensordnung einzubinden. Dies dürfte gegenwärtig keine Mehrheit finden. Man muss aber auch an die Zeit nach dem Krieg denken. Sehen Sie eine Chance, jedenfalls nach Putin, wieder mit Russland zu ,,normalen“ Beziehungen zurückzukehren? Könnte man vielleicht damit beginnen, den Petersburger Dialog wieder zum Leben zu erwecken? Er sollte ja die Verständigung zwischen Deutschland und Russland fördern.

Es wird Jahrzehnte dauern und nur ohne Wladimir Putin und seiner Clique möglich sein. Deswegen müssen wir die Opposition in Russland unterstützen: Mutige Männer und Frauen, die aufgrund von ihnen begleiteten Demonstrationen gegen den Krieg im Gefängnis gelandet sind. 

Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Ukraine sich nicht nur selbst verteidigt, sondern auch in dem Krieg gegen autoritäre Strukturen für Werte wie Freiheit, Rechtstaatlichkeit und Gewaltenteilung eintritt. Es kann aber kaum bestritten werden, dass auch bei uns die rechtstaatliche Demokratie angegriffen wird. Sie ist erheblich unter Druck geraten, ihre Funktionsfähigkeit wird in Zweifel gezogen. Müsste uns daher der Konflikt in der Ukraine nicht besonders anspornen, uns mit den Gegnern unserer Demokratie auseinander zu setzen? 

Als Demokraten müssen wir jederzeit bereit sein, für unsere Überzeugungen einzustehen. Wir dürfen es nicht zulassen, dass unsere Demokratie von innen heraus geschwächt wird. Es herrscht bei manchen Menschen eine gewisse Unsicherheit. Oft entlädt sich dieser vermeintliche Frust im Internet. Der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien in Europa zeigt das deutlich. Sie bieten einfachste Antworten auf sehr komplexe Probleme. Viele Verschwörungstheorien werden verbreitet. Als Politikerinnen und Politiker der demokratischen Parteien müssen wir die Ängste und Sorgen der Menschen ernst nehmen und Lösungen anbieten. Wir müssen jeden Tag diese Überzeugungsarbeit leisten. 

Zum Schluss ein ganz anderes Thema:
Wir haben seit der letzten Wahl eine sehr interessante Koalition mit der begrüßenswerten Folge, dass es im Parlament wieder eine zahlenmäßig starke Opposition gibt. Man geht im Allgemeinen davon aus, dass die FDP mit der CDU die meisten politischen Übereinstimmungen hat. Dennoch regiert sie jetzt mit der SPD und den Grünen. Ist das Denken und Regieren in ,,Lagern“ für die FDP endgültig Vergangenheit?

Wir Freien Demokraten sind aus Überzeugung eine Kraft der Mitte, was sich auch in der Sitzordnung im Plenarsaal des Bundestages widerspiegelt. Wir haben in der Vergangenheit erfolgreich mit der Union im Land und im Bund regiert. Aber die politische Landschaft hat sich stark verändert. Das politische Spektrum ist heute vielfältiger. Die demokratischen Parteien müssen letztlich alle miteinander arbeiten können, wollen sie nicht zusehen, wie die rechts- und linksradikalen Parteien an Einfluss gewinnen. Am Ende entscheiden die Wähler, und als Abgeordnete des Deutschen Bundestages sind wir dann dazu verpflichtet, den Wählerwillen innerhalb des demokratischen Spektrums so gut umzusetzen, wie möglich. Mit der SPD und den Grünen bilden wir in dieser Legislaturperiode zusammen eine Fortschrittskoalition, und ich bin fest davon überzeugt, dass sie gerade das Beste für unser Land ist. Dass wir es mit dem Fortschritt ernst meinen, haben wir schon nach wenigen Wochen gezeigt, zum Beispiel mit der Abschaffung des Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche. 

Sie sind äußerst engagiert, pflegen eine klare verständliche Sprache, sind auch nicht unkritisch und finden gelegentlich harte Worte. Selbst der Kanzler und der Papst werden nicht verschont. Was treibt Sie an? Wie gehen Sie mit Kritik um? 

In all den Jahren hat sich meine Motivation nicht geändert: Ich habe angefangen, mich politisch zu engagieren, weil ich der Meinung war, dass vor die Kita meiner Kinder ein Zebrastreifen hingehört. Wenn ich etwas für richtig halte, dann muss ich mich auch dafür einsetzen. Damals ging ich in die Kommunalpolitik und habe gemeinsam mit meiner FDP-Ratsfraktion sehr viel in Düsseldorf erreichen können. Der KöBogen und das daraus entstandene neue Umfeld gehören ganz oben dazu. Aber auch in der Jugend- und Sozialpolitik habe ich vieles mitgestalten können. Heute ist es unsere friedliche und freiheitliche Lebensweise in Europa, für die ich mich mit ganzer Kraft einsetze. Wenn ich dafür kritisiert werde, dann nehme ich das gelassen hin, denn ich weiß, dass ich auf der richtigen Seite stehe. Aber: Zugegeben, mein Fell ist auch zwei Zentimeter dicker geworden, seitdem ich Abgeordnete im Deutschen Bundestag bin. 

Sie sind gefragt wie nie, Sie sind auf allen Kanälen und in allen Zeitungen präsent, sind also in der Politik ganz vorne angekommen. Ihre Prominenz ist, wie der Spiegel schreibt, durch die Decke gegangen. Fragen der Verteidigung werden jedenfalls mehr mit Ihnen als mit der Verteidigungsministerin besprochen. Hätten Sie gern ein Ministeramt, gewissermaßen auch als Anerkennung für Ihre überzeugende politische Tätigkeit? 

Die FDP hat die Ministerien ausgewählt, in der unsere Kernkompetenzen liegen: Finanzen, Justiz, Bildung und Digitales. Ich bin meiner Fraktion sehr dankbar, dass ich dem Verteidigungsausschuss vorsitzen darf. Dort kann ich die Legislative vertreten und die Bundesregierung fair, aber auch kritisch kontrollieren, und ich darf die Einsätze unserer Soldatinnen und Soldaten begleiten. Das erfüllt mich nicht nur sehr, sondern nötigt mir auch unglaublich großen Respekt ab. Mein Herz schlägt für die Bundeswehr und ich darf mit ihr zusammenarbeiten. Das ist mehr, als ich mir je in meinem politischen Leben habe vorstellen können. 


Kurzvita 

Marie Agnes Strack Zimmermann Portrait, , „Heute ist es unsere friedliche und freiheitliche Lebensweise in Europa, für die ich mich mit ganzer Kraft einsetze“1958 in Düsseldorf geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur Studium der Publizistik, Politikwissenschaften und Germanistik an der Ludwigs-Maximilians-Universität, München. 1983 Abschluss Magister Artium, 1986 Promotion zum Dr. phil. über die „USA Berichterstattung im ZDF“. 20 Jahre Verlagsrepräsentantin beim Nürnberger Tessloff Verlag. 1990 Eintritt in die FDP, 1999 erstes kommunalpolitisches Mandat. Seit 2004 Ratsfrau der NRW-Landeshauptstadt Düsseldorf, von 2005 bis 2009 und noch einmal von 2014-2017 FDP-Fraktionsvorsitzende im Rat der Stadt Düsseldorf. Ab 2008-2014 sechs Jahre Erste Bürgermeisterin der Landeshauptstadt Düsseldorf. 2013-2019 stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende, ab 2019 Mitglied des FDP-Bundesvorstandes. Seit 2017 Mitglied des Deutschen Bundestages, seit 2021 Vorsitzende des Verteidigungsausschusses und Mitglied im Vorstand der FDP-Bundestagsfraktion. Marie-Agnes Strack-Zimmermann ist katholisch, verheiratet mit Horst Strack-Zimmermann, hat drei erwachsene Kinder (eine Tochter und zwei Söhne) sowie bisher drei Enkelkinder. Sie lebt in Düsseldorf und Berlin. Wenn Sie den Kopf freikriegen möchte, fährt sie auch sehr gerne Motorrad. 


© Portätfoto: MASZ 

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