14. Dezember 2022In 2022/4

„Wir brauchen ‚Ein Europa, das schützt‘.“ 

Interview mit Prof. Dr. Heinz Theisen, deutscher Politikwissenschaftler 

von Dr. Siegmar Rothstein 


Es breitet sich allgemein das Gefühl aus, dass die Welt in Unordnung geraten sei und dass wir in einer geradezu ausweglosen Zeit leben. Putins Russland hat die Ukraine überfallen. Wie beurteilen Sie diesen Krieg und die Haltung des Westens? 

Wir müssen uns zunächst auf die Kategorien der Beurteilung einigen. Moralisch und völkerrechtlich liegt die Schuld eindeutig bei Russland, geopolitisch und machtpolitisch trägt der Westen Mitschuld in der Vorgeschichte des Krieges. Vor allem die USA haben die zunächst bewusst eingenommene Neutralität der Ukraine seit 2002 unterminiert, um das Land nach Westen zu ziehen und damit die immer wieder deklarierte Rote Linie überschritten. Warum eigentlich muss die Ukraine militärisch zum Westen gehören? 

Das macht den Krieg Russlands nicht weniger unmoralisch, erklärt ihn aber besser, als alles nur dem „kranken Hirn Putins“ zuzuschreiben. Zu behaupten, dass Putin Europa erobern wolle, wie das gelegentlich anklingt, ist völlig abwegig. Er hatte in der beanspruchten russischen Einflusssphäre in Tschetschenien, in Georgien und in der Ukraine Kriege geführt, schlimm genug. Das Eingreifen in Syrien hat den dortigen Krieg immerhin zu beenden geholfen. Er ist gewiss kein Demokrat, aber auch kein Imperialist, der Europa bedroht. 

Auch nach dem Krieg müssen wir irgendwie mit Russland leben. Zudem gibt es noch eine Menge „verbrecherischer“ Regime und dennoch müssen wir mit diesen in Koexistenz leben, wie im Kalten Krieg. Dazu gehört der Respekt vor deren Grenzen und Einflusssphären und die Schaffung von militärisch neutralen Zwischenräumen wie einst Finnland, Österreich und zeitweise eben die Ukraine, vor allem aber eine realistische Einsicht in die Grenzen des Westens und seiner Möglichkeiten. 

Die Chance versucht zu haben, Putin vom Krieg abzubringen, wird überwiegend als utopisch, zumindest als sehr gering angesehen, da er den Zerfall der Sowjetunion, den er als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts empfindet, ein wenig korrigieren wollte und die Ukraine, vielleicht danach auch weitere Nachbarstaaten, wieder in die totale Abhängigkeit von Russland bringen wollte, um seine Macht auszudehnen. 

Putin hat den Zerfall mit der Behauptung russischer Gebiete innerhalb Georgiens 2008, mit der Annektierung der Krim und mit dem Angriff auf die Ukraine zu korrigieren versucht. Beide Staaten waren 2008 zu künftigen Nato-Staaten bestimmt worden. Wir erkennen in seinem Verhalten also vornehmlich eine geo- und sicherheitspolitisch motivierte Verhinderung dieser Mitgliedschaften. Die Kraft seines Regimes reicht allenfalls für die eigene Selbstbehauptung aus, nicht für neue imperiale Projekte. 

Muss auch Deutschland Konsequenzen aus dem Krieg in der Ukraine ziehen? Immerhin wird der Bundeswehr ein Sondervermögen in Höhe vom 100 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt, um den sicherheitspolitischen Herausforderungen in der Zukunft gewachsen zu sein. Ist dies die richtige Antwort? Reicht es? 

Eine einsatzfähige Armee ist das Minimum an Selbstbehauptung, welches jeder Staat der Welt braucht, der einer bleiben will. Im Falle Deutschlands kommt die notwendige Einbettung in westliche Sicherheitssysteme hinzu. Um in diesen ernst genommen zu werden, muss man einen angemessenen Beitrag leisten. Das ist jetzt bemerkt worden. 

Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit den Krisen dieser Welt, insbesondere mit denen des Westens. In Ihrem letzten Werk „Selbstbehauptung“ schlagen Sie eine bemerkenswerte Doppelstrategie vor, der Westen müsse sich politisch und kulturell auf den eigenen Raum begrenzen und seine Grenzen schützen, um sich in Zukunft behaupten zu können. Machen Sie uns bitte mit den Grundzügen und Folgen Ihres Vorschlages vertraut. 

Generell bedeutet die Strategie einer Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung den Abschied von einer hochmoralisch motivierten Einmischung in fremde Kulturkreise. Fremd ist, was wir nicht verstehen, und wo wir daher auch nicht bestehen. Der politische Universalismus des Westens war ein Irrweg. Er hat ganze Regionen durch Interventionen destabilisiert und andere Kulturen gegen den Westen aufgebracht, Fundamentalismus und Nationalismus angeheizt. Im Rahmen einer neuen Strategie der Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung würde sich der Westen dagegen weit mehr zurücknehmen, sich auf seine eigenen Angelegenheiten konzentrieren und gegenüber den Konflikten in anderen Machtsphären eher eine Haltung der Neutralität einnehmen. Die Stärke des Westens entspricht schon lange nicht mehr der Höhe seiner Moral, mit der er sich für allzuständig bei allen Problemen der Welt zu empfinden scheint. Ein Achtel der Weltbevölkerung, so viele umfassen die Länder des Westens etwa, kann auf Dauer nicht den Rest der Welt dominieren und auch nicht alle entwickeln. Wir können für unsere Werte werben, aber niemanden, nicht einmal das bevölkerungsmäßig kleine Afghanistan konnten wir – trotz zwanzigjährigem Einsatz – zu ihrer Übernahme zwingen. Der Mangel an Selbstbegrenzung, auch hinsichtlich der den Interventionen im Irak und in Libyen folgenden Flüchtlingsströme, schwächt unsere eigene Selbstbehauptung. 

Sie streiten für die multipolare Weltordnung, eine Welt mit mehreren Machtzentren, in deren Einflusssphären nur eingedrungen werden darf, wenn die eigene Sicherheit bedroht ist, also auch dann nicht, wenn irgendwo auf der Welt nach unserer Ansicht großes Unrecht geschieht. 

Diese Strategie hätte den Vorteil, dass sie friedensfördernder und insofern nicht unmoralisch ist, sondern eine andere Moral verkörpert, die auch die Folgen des Handelns mitbedenkt. Erinnern wir uns an die Zeit des Kalten Krieges. Die Welt hat diesen nur überlebt, weil wir uns in dieser Zeit eben nicht eingemischt haben, selbst als in Ostberlin, in Ungarn und in Prag die Panzer rollten. Hätten wir uns eingemischt, hätte es später die Entwicklung des Ostblocks hin zur Freiheit nicht geben können. Die Zurückhaltung des eigenen Werteuniversalismus ist langfristig oft friedensfördernder und gibt der inneren Entwicklung dieser Länder Chancen, wenn dann die Zeit gekommen ist. 

Heute brauchen wir eine Ordnung der Mächte im weltweiten Kontext, auch mit China, obwohl dort gegenüber den Uiguren großes Unrecht geschieht. Hierbei reichte allerdings die Einsicht in die Grenzen unserer Möglichkeiten aus, um gar nicht erst an Intervention zu denken. Unsere Kräfte werden auch nicht ausreichen, um Russland oder die iranische Führung zu besiegen. Deshalb sollte das Unrecht der Krim-Annexion aus realistischer Einsicht in das Mögliche hingenommen werden. Schon der Versuch einer Rückeroberung der Krim würde den Weltfrieden gefährden, das kann die Ukraine bei allem Respekt nicht verlangen. Großmächte haben Einflusssphären, die USA auch, erst nach ihnen müssen die Grenzen behauptet werden. Diese beginnen im Falle Russlands natürlich bei der Nato-Mitgliedschaft. 

Ihr Vorschlag der Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung steht im Widerspruch zu dem von Ihnen kritisierten westlichen Universalismus der „Einen Welt“, die von allen geschützt und unterstützt werden muss. Demgegenüber wird immer häufiger auch in anderen Ländern gefordert, es müssten in erster Linie eigene Interessen vertreten werden. 

Die erträumte universale Weltordnung sollte doch nach dem Desaster in Afghanistan als Größenwahn erkannt werden. Heute wäre die Doppelstrategie von Selbstbehauptung und Selbstbegrenzung wohl der Weltlage angemessener. Reiner Moralismus ist in der Außenpolitik eine weltfremde Kategorie. Er spielt außerhalb des Westens keine Rolle und wird dort nur gegen uns ausgenutzt. Diejenigen, die ihre Karrieren mit Visionen von einer unbegrenzten Weltoffenheit gemacht haben, mussten jetzt im Zusammenprall mit der Realität umdenken. Bezüglich offener Grenzen werden weitere Umdenkungsprozesse folgen. Es geht wie fast überall auf der Welt um kontrollierbare Grenzen, möglichst schon auf europäischer Ebene, um uns gegenüber der illegalen Migration behaupten zu können. 

Die Ukraine erfährt erhebliche wirtschaftliche Solidarität. Es wird bereits von einem „Marshallplan des 21. Jahrhunderts“ für den Wiederaufbau in der Ukraine gefordert, obwohl der Krieg noch nicht beendet ist. Wo sehen Sie die Zukunft der Ukraine? Hat sie eine Chance Mitglied der Nato zu werden, das sie als Ziel in ihrer Verfassung verankert hat. Sollte die Ukraine dauerhaft neutral bleiben? 

Waffenlieferungen und erst recht die Aufnahme von Flüchtlingen waren gebotene Formen der Solidarität. Die uns selbst schädigenden Sanktionen im Energiebereich sind jedoch irrational. Sie drohen die Deindustrialisierung Deutschlands einzuleiten. Hier handelt es sich um Selbstschädigung statt um Selbstbehauptung. Ungarn hat sich hierbei viel klüger verhalten, Sanktionen ja, aber unter Ausklammerung der Energie. 

Wenn die Ukraine Nato-Mitglied wird, werden wir niemals wieder ein gutes Verhältnis zu Russland bekommen. Das ist die Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato nicht wert. Beim Aufbau der Ukraine sollten wir helfen, möglichst gemeinsam mit Russland, wie beim Wiederaufbau einer Brücke von beiden Seiten. Aber eben einer Brücke und nicht einer Trutzburg gegen den anderen. Aber vergessen wir nicht, es gibt auch noch andere Staaten wie etwa Syrien, Armenien und der Jemen, die Hilfe bräuchten. Auch deshalb kann Hilfe nur begrenzt erfolgen. 

Seit Bundeskanzler Scholz wenige Tage nach dem Einmarsch der Russen in die Ukraine in einer Regierungserklärung von der die Welt verändernden Zeitenwende gesprochen hat, ist der Begriff in aller Munde. Vielleicht gelingt es ja, unser Europa so stark zu machen, dass es sich selbst schützen kann und in Zukunft eine anerkannte bedeutsame Rolle neben anderen Machtzentren einnimmt, in der auch Deutschland gut aufgehoben ist und seine nationalen Interessen vertreten kann. Oder bleibt dies alles, jedenfalls auf absehbare Zeit, nur ein Wunschtraum? 

Ja, darauf hoffe ich. Wir brauchen „Ein Europa, das schützt“, wie es Macron konzeptionell formuliert hat – ohne je eine Antwort aus Deutschland darauf zu erhalten. Nationalistische Regressionen sind gerade aus der Perspektive der Selbstbehauptung illusionär. In der multipolaren Welt wären die meisten europäischen Staaten zu schwach, um sich allein behaupten zu können, nicht einmal gegenüber der Türkei oder dem Iran würde dies gelingen. Eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft als eigenständiger Pfeiler in der Nato wäre dazu in der Lage. Die Sicherheitspolitik muss sich, angefangenen bei der gemeinsamen Grenzsicherung und bei einem gemeinsamen Asylgesetz, in diese Richtung bewegen. Je mehr wir uns nach außen, gegenüber nichtwestlichen Kulturen und Regimen begrenzen, desto mehr sind wir legitimiert und auch in der Lage, unsere kulturellen Eigenheiten und unsere Freiheit ihnen gegenüber zu behaupten. 


Kurzvita 

Heinz Theisen, , „Wir brauchen ‚Ein Europa, das schützt‘.“ Prof. Theisen wurde 1954 in Langenfeld geboren. Nach dem Abitur am mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasium in Opladen, Studium der Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichte und Staatsrecht an den Universitäten Göttingen und Bonn, wo er 1983 bei Karl Dietrich Bracher zum Dr. phil. promoviert wurde, 1984 -1987 persönlicher Assistent des Rektors der Universität Bonn, 1987-1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der interdisziplinären Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg, 1991-1997 Professor für Politikwissenschaft an der Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl, ab 1997 bis zur Emeritierung Professor für Politikwissenschaft an der Katholischen Hochschule NRW in Köln, 2004 – 2014 Gastprofessuren in Bethlehem und Osteuropa. 

Prof. Theisen ist Gastautor der Neuen Zürcher Zeitung und von Tichys Einblick, seit Februar 2022 gehört er dem politischen Beirat des Bürgerlich-freiheitlichen Aufbruchs an und ist Sprecher des Fachbereichs Europa, Naher Osten und Konflikte der Kulturen. Er hat mehrere Bücher und zahlreiche Aufsätze veröffentlicht. Im April dieses Jahres ist sein Hauptwerk erschienen „Selbstbehauptung. Warum Europa und der Westen sich begrenzen müssen.“ 

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