Claude-Oliver Rudolph und Andrea Kleiner

"Wer sich mit mir wirklich dialektisch auseinandersetzt, wird der Wahrheit schnell auf die Spur kommen"

Gespräch mit Claude-Oliver Rudolph, Schauspieler, Produzent, Regisseur, Buchautor und Moderator


von Andrea Kleiner

17 Uhr – Düsseldorf – Interview-Termin mit dem Filmbösewicht Claude Oliver Rudolph (COR). Aufgeregt, was mich wohl erwarten wird, klingele ich pünktlich um 17h an der Tür. Ein muskulöser Mann mit silbern gesträhntem Haar und dunkler Ray Ban Sonnen Brille, barfuß, gekleidet einem blau gestreiften Breton Shirt öffnet mir gut gelaunt die Tür „Bonjour Madame“ sagt er mit kurzer Verbeugung und bittet mich höflich einzutreten. Er führt mich in den Salon und bietet mir einen Kamillentee an, den er bereits trinkt. Sofort muss ich an den Film „ Der Wilde“ mit Marlon Brando denken und spreche ihn darauf an. COR, er lacht und mit einer weichen, männlichen Stimme sagt er „ja, der gute Marlon Brando hat diese Shirt auch schon getragen“. Deutlich mehr entspannt nippe ich an meinem heißen Kamillentee und beginne mit dem Interview, da ich von dem Filmbösewicht ja offenbar nichts zu befürchten habe!

Sie sind in den 41 Jahren, die Sie als Schauspieler tätig sind, 170 mal als Bösewicht gestorben. Ihr Publikum kennt und liebt Sie noch immer als den Chinesen-Fiete aus Dieter Wedels Kiezdrama „Der König von St. Pauli“ oder als Dieselheizer Ario aus Wolfgang Petersens Kriegsdrama „Das Boot“. Lange Zeit waren es in den Medien ruhig um Sie. Jetzt sind Sie zurück in einer Rolle, die sich zwar dicht an ihr Image als Schurke der Nation anlehnt, es aber auch konterkariert. Anfang des Jahres haben Sie bei Putins Propagandasender TV-Sender Russia Today (RT ) als Ressortleiter Kunst und Kultur angeheuert. Und schon sind Sie wieder der Bösewicht der Nation: Wie kam es dazu?

Ich habe bei der letzten Berlinale den Deutschlandchef des Senders abgefangen, um ihn davon zu überzeugen, dass dem Programm ein bisschen Kultur nicht schaden könne und dass ich Claude Oliver Rudolph genau der richtige sei, um diese Lücke zu schließen. Und ich habe ihn überzeugt. Er suchte kein angepasstes Arschloch! Mittlerweile drehe ich die dritte Staffel von „Clash“, so heißt das Format, benannt nach der berühmten Punkband. Ein bisschen Talk mit Menschen, die genauso verrückt sind wie ich, dazu ein bisschen Show und Film, Bücher- und Plattentipps.

Sie sind Juror der ersten Stunde beim Hagener Kurzfilmfestival „Eat my Shorts“. Hier treffen sich nationale und internationale Stars wie z. B. Sonja Kirchberger, Nastassja Kinski, Inger Nielson, Ralph Richter und Katy Karrenbauer, um den Filmnachwuchs zu fördern. In diesem Jahr waren Sie nicht nur in der Jury, sondern haben als Laudator den Ehrenpreis an Sunnyi Melles überreicht. Welche Bedeutung hat dieses Festival für Sie?

Das Hagner Kurzfilmfestival wurde vor Jahren ins Leben gerufen, ein impulsgebendes hochkarätiges Festival. Im Rampenlicht stehen bei erfolgreichen Filmen oft nur ein oder zwei Stars, das Handwerk des Filmemachens, welches auch zu meinen Schaffensbereichen gehört, fand bisher eher wenig Beachtung – dabei sorgen die Filmemacher dafür, dass es skurril, abwechslungsreich, verwirrend, kreativ und lustig wird und im besten Fall zum Nachdenken anregt. Die Regionen rund um den Ruhrpott und des Sauerlandes sind bekannt für ihre Industrie, ihr Gewerbe und ihr Handwerk. Oder: Fleiß, Schweiß, Wälder und Curry-Wurst – mal ganz grob zusammengefasst. Dabei tut sich da derzeit so einiges – also warum hinter Bergen und Industrieruinen verstecken, wenn man was zu zeigen hat! Exzellentes Handwerk sind auch die technisch anspruchsvollen Formate unserer jungen Filmemacher, die sich nicht vor „Großprojekten“ verstecken müssen. Dies ist der Ansatz, der hinter „Eat My Shorts“ steckt! Für alle „Englisch-Verweigerer“: „Friss meine Unterhosen!“ (frei nach Bart Simpson). Unsere „Shorts“ sind allerdings nicht die ungewaschenen Bucksen aus dem Korb… unsere „Shorts“ sind kurz. Unsere „Shorts“ sind unsere Kurzfilme. Und die wollen gezeigt werden!

Der Nachwuchs wird es Ihnen danken. Herr Rudolph, fühlen Sie sich eigentlich verkannt? Immer wieder will man Sie als Schläger abstempeln, und auch in den Feuilletons haben Sie keinen leichten Stand? Dabei haben Sie ein Einser-Abitur gemacht, mit 15 wurden sie am Bochumer Schauspielhaus von Werner Schroeter entdeckt und mit 18 von Peter Zadeck nach Berlin geholt. Eine geniale Leistung - und das während der Schulzeit.

Wer sich mit mir wirklich dialektisch auseinandersetzt, wird der Wahrheit schnell auf die Spur kommen. Wer jedoch nur bei Bild und Bunte recherchiert, hat den Klischee-Artikel schnell geschrieben. Künstlerisch sieht es genauso aus. Ein Beispiel: Das Theaterstück „Mein Freund Hitler“ von dem japanischen Autor Yukio Mishima, welches ich am Brandenburger Theater inszenierte, haben die Kritiker gnadenlos verrissen. Im Spiegel jedoch gab es eine Hymne, in Frankreich auch, selbst in israelischen und holländischen Zeitungen wurde das Stück gefeiert. Bloß die deutschen Feuilletons haben es größtenteils nicht verstanden oder wollten es nicht verstehen.

Sie sind ja nicht nur Schauspieler, sondern auch Produzent, Regisseur, Moderator und Buchautor, sozusagen ein künstlerisches Multitalent. Gerade haben Sie ein Drehbuch für ein Musical mit dem Titel „Der letzte Rebell“ geschrieben. Ich durfte Auszüge lesen und war sofort begeistert.

Ja, ich habe die ganzen Rechte von Hans Albers gekauft. Für Biographie und Namensschutzrechte, Musical und den Film „Der blonde Rebell“ über den einzigen sauberen Star aus der Nazizeit, der seine jüdische Frau nicht in den Arsch getreten hat. Allein dafür gebührt dem größten Sohn Hamburgs (und nicht etwa Helmut Schmidt) schon eine Hommage. Das Drehbuch „Der blonde Rebell“ hat übrigens den Drehbuchpreis der Stadt Hamburg gewonnen. Mit Frank Otto habe ich in Hamburg eine Firma, mit der wir gerade das Musical vorbereiten. Auch Tim Mälzer ist mit im Boot.

Sie sind ein Hans Dampf in allen Gassen. In Düsseldorf haben sie vor Kurzem die künstlerische Inszenierung der Weltpremiere von „Das Liebesverbrechen“ von Nicole Rösler auf ihrem legendären Rosenfest durchgeführt. Eine sehr unkonventionelle Inszenierung mit vielen Höhepunkten und Überraschungen. Die Gäste waren begeistert. Wie kam es zu dieser Inszenierung?

Ich kenne die Autorin Nicole Rösler seit vielen Jahren. Ihr Werk „Das Liebesverbrechen“, dem fulminanten Abschluss ihrer „Sechsologie der Sinne“, greift das Thema “häusliche Gewalt“ auf, und das ist mir eine Herzenssache. Allein im Jahr 2015 wurden nur in Deutschland laut Spiegel 643.000 Frauen Opfer häuslicher Gewalt und 327 wurden getötet – ein Drittel von ihrem eigenen Ehemann. Die Dunkelziffer über die weltweite Opferrate ist eine Bombe, die auf der ganzen Welt für Aufmerksamkeit sorgen wird. Seit den Kölner Übergriffen an Sylvester 2016 führe ich Kampfkurse für Frauen durch.

Sind sie Anarchist?

Ja, das bin ich. Die Anarchie war immer die Geisteshaltung der intellektuellen Elite. Deshalb gibt es keine rechten Intellektuellen, es gibt nur dumme Rechte. Es findet sich einfach kein ernst zu nehmender Geist, der sich vor den rechten Karren spannen lässt. Und das bestätigt nur meine Haltung, die nicht irgendeinem Klischee entspringt, sondern tiefer Überzeugung. Auch deshalb habe ich noch nie einen Vertreter der Judikative oder Exekutive gespielt. Meine Rollen sind Gangster oder politisch motivierte Gewalttäter.

Treten Sie für irgendetwas ein?

Ja, für die Entrechteten, für die, die keine Stimme haben!

Dann kann man Ihre Prügeleien als Einsatz für die gute Sache interpretieren?

Ja, sicher. Ich bin kein Schläger, sondern ein Robin Hood. Wer genau hinguckt, sieht das. Wer waren denn meine Gegner? Ein gewalttätiger Zuhälter, der Bodybuilder, der Dopingmittel verkaufte. Einen Physikstudenten habe ich noch nie in die Mangel genommen.

Fressen, rauchen, saufen, im Augenblick leben? Sucht oder Genussmensch versus eiserne Disziplin?

Das trifft beides auf mich zu. Ich liebe lange Abende mit interessanten Menschen und guten Gesprächen bis tief in die Nacht. Dazu guten französischen Wein und gutes Essen – ich koche leidenschaftlich gerne - und viele Gitanes. Gerne immer zu viel von allem und ganz extensiv. Aber nur in arbeitsfreien Zeiten. Sobald ich spiele, schreibe, moderiere oder produziere ist Kamillentee, gesundes Essen und Sport angesagt. Es fällt mir nicht schwer von einem Extrem ins andere zu fallen. Viele Jahre Übung!

Frankreich hat Gerard Depardieu, wir haben Claude Oliver Rudolph. Ein Vorbild?

Gerard Depardieu ist einer der ganz Großen, genau wie Marlon Brando und Charles Bronson. Ein genialer Schauspieler, Lebemann, Genussmensch, und er schert sich einen Dreck um die Medien und über das, was man über ihn sagt und schreibt. 

Es ist spät geworden. COR begleitet mich zur Tür. Er nimmt die Brille ab, bedankt sich für das Interview und verabschiedet sich bei mir mit einem Handkuss. Der Bösewicht ist ein Gentlemen durch und durch!

Kurzvita

Claude-Oliver RudolphClaude Oliver Rudolph ist Sohn eines gutbürgerlichen wohlhabenden Elternhauses – Vater Pelzgroßhändler, Mutter gebürtige Französin – 1956 in Bochum geboren, bis zur Einschulung wuchs er bei seiner Großmutter in Frankreich auf. Am Bochumer Gymnasium lernte er Herbert Grönemeyer kennen, begann mit ihm seine Schauspielkarriere am Schauspielhaus Bochum. Entdeckt wurde er mit 15 Jahren von Werner Schroeter und spielte mit 18 Jahren in Bochum und Berlin bei Peter Zadek. Nach dem Abitur Studium der Philosophie, Psychologie und Romanistik an der Ruhr-Universität Bochum; Theaterwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Film und Regie am Musischen Zentrum. Anschließend Regievolontariat bei Jiří Menzel und ein Seminar bei Lee Strasberg in Bochum. In dem Theaterskandal „Unter Aufsicht“ von Rainer Werner Fassbinder spielte Rudolph mit Volker Spengler die Hauptrolle. Im James-Bond-Film „Die Welt ist nicht genug“ hatte er eine Rolle an der Seite von Pierce Brosnan. Dem deutschsprachigen Publikum ist er vor allem bekannt durch den Film „Das Boot“ und den TV-Mehrteiler „Der König von St. Pauli“, in dem er den ruchlosen Schläger Chinesen-Fiete spielt. Claude-Oliver Rudolph betreibt Kampfsport, ist Mitglied des Kampfsportverbands Budo Akademie Europa und I-Defense und trainiert Judo und All-Style.



Paul-Reiner Körfer mit Team

„Das weltweit kleinste vollimplantierbare Kunstherz ist in der Testphase“

Interview mit Prof. Dr. Paul-Reiner Körfer, Herzchirurg am Evangelischen Klinikum Niederrhein in Duisburg


von Dr. Paul Breuer

Paul Breuer und Paul-Reiner Koerfer
Paul Breuer und Paul-Reiner Körfer

Begegnet bin ich Prof. Dr. Körfer erstmals vor vielen Jahren in Bad Oeynhausen, nicht ahnend, ihn heute interviewen zu können. Wir sind auf dem Weg zur TH Aachen. Prof. Körfer möchte mir die neueste Entwicklung eines Kunstherzens vorstellen, das sich dort in einer Testphase im Helmholz Institut befindet. Die Firmen ReinHeart TAH (total artificial heart) zusammen mit der ReinHeart GmbH arbeiten dort an der Entwicklung des kleinsten weltweit vollimplantierbaren Kunstherzens. Es gibt mehrere Arten von Kunstherzen. ReinHeart TAH hat ein vollimplantier bares Kunstherz entwickelt. Bei dieser Methode wird das menschliche Herz komplett explantiert und durch eine mechanische Pumpe ersetzt. Darüber hinaus wird an einem Herzunterstützungssystem (ReinVAD) gearbeitet, das in den Körper von Patienten mit Herzerkrankungen (Herzinsuffizienz im Endstadium) eingesetzt wird, um damit den Blutkreislauf ausreichend aufrecht erhalten zu können. Das menschliche Herz bleibt dabei erhalten. Diese beiden Unternehmen leisten auf dem Gebiet in Deutschland Pionierarbeit. Prof. Körfer hat mehr als 30.000 Operationen am offenen Herzen selbst durchgeführt. Sein eigenes Herzblut hängt sozusagen daran, ein Kunstherz zu entwickeln, das kleiner und effizienter ist, als alle bisherigen Tieren und Menschen eingepflanzten Kunstherzen. Für ihn ist es eine Herausforderung aber auch ein Traum, ein Kunstherz zu entwickeln, das eine echte Alternative zu einer Herztransplantation ist.

Wie lange arbeiten Sie schon an dieser Entwicklung?

Gedanklich schon seit ich mich mit der Herztransplan tation überhaupt beschäftige. Die Entwicklung bei der Organspende (abnehmende Zahlen) war schon um die Jahrtausendwende absehbar und nach entsprechenden Vorbereitungen arbeiten wir jetzt seit mehr als 10 Jahren an diesem Projekt. Aber neben der Idee braucht man auch finanzielle Investitionen - und diese sind nicht immer ein fach zu beschaffen.

Wir sprechen hierbei von einem vollimplantierbaren Kunstherz, das es bisher auch noch nicht gibt, nicht wahr?

Das ist richtig. Wir wollen ein System entwickeln, dass komplett implantiert wird, wie bei einer Herztransplantation. Das heißt, das menschliche Herz wird komplett durch ein Kunstherz ersetzt mit einem ventrikulären Unterstützungssystem. Das weltweit kleinste vollimplantierbare Kunstherz befindet sich hier in Aachen in der Testphase.

Wie lange dauert die Testphase bevor es einem Tier oder Menschen eingepflanzt wird?

Wir sind in der Testphase bei Kälbern. Der Weg bis zum Menschen ist noch weit und hängt auch hier wieder von den finanziellen Zuschüssen und Spenden ab.

Weshalb bei Kälbern und nicht bei Schweinen?

Das Kalb bietet erhebliche anatomische Vorteile. Es ist vergleichbar mit der Anatomie sowie dem Gewicht des Menschen.

Wie hoch ist die Abstoßungsgefahr beziehungsweise -reaktion des Kunstherzens einzuschätzen und wie in den Griff zu bekommen?

Das Kunstherz ist zwar mit allen seinen Komponenten ein Fremdkörper, wird aber nicht abgestoßen. Bei einem Herzschrittmacher ist das ja genauso.

Gibt es - ähnlich wie bei einem Auto - dabei auch sogenannte TÜV-Zeiten?

Das System muss so perfekt sein, dass eine Wartung oder Kontrolle nicht notwendig sein wird. Eine Fehlfunktion wäre für den Patienten sicherlich eine Katastrophe.

Wie muss man sich das vorstellen?

Alle Komponenten müssen mehr oder weniger verschleißfrei sein.

Welches Gewicht hat das neue Kunstherz? Zum Vergleich: Das Kunstherz von Alain Carpentier der Firma Carmat in Frankreich soll circa 900 Gramm wiegen.

Unser Kunstherz wiegt unter 800 Gramm. Das Gewicht ist aber nicht so entscheidend. Wichtig ist die räumliche Größe, sodass wir dieses Herz bei mehr als 80 Prozent der in Frage kommenden Personen implantieren können. Bei anderen Systemen ist dies nur bei etwa 20 Prozent der Patienten möglich.

Wie lange schätzen sie die Lebensdauer des Kunstherzens ein?

Die Lebensdauer des Kunstherzens sollte mindestens fünf Jahre wenn nicht noch länger sein. Aber das wird sich dann im natürlichen Verlauf ergeben.

Aus welchem Material besteht das Kunstherz?

Unser Kunstherz besteht aus verschiedenen Komponenten - Titan, Kunststoff, Carbon und anderen Materialien.

Wie wird das Kunstherz mit Energie betrieben und wie wird der Akku wieder aufgeladen?

Es wird elektrisch betrieben und der Akku wird von außen über Induktion aufgeladen.

Welche Leistung bringt der elektrische Motor und wieviel Liter Blut pro Stunde pumpt das Herz?

Der Motor pumpt bis circa acht Liter Blut pro Minute. Zum Vergleich: Ein menschliches Herz pumpt etwa fünf Liter pro Minute.

Bis wann, erwarten Sie, wird die klinische Phase des neuen Kunstherzens abgeschlossen sein?

Die klinische Phase des neuen Kunstherzens wird sich erst dann ergeben, wenn die Tierversuche eine Implanta tion bei Menschen erlauben. Dann sind wir jedoch schon sehr weit.

Könnten Sie uns eine Zeitspanne nennen?

Die Zeit ist schwierig abzuschätzen. Das hängt von den Ergebnissen der klinischen Testphase mit Tieren ab. Ent scheidend sind die finanziellen Mittel, die nicht nur von der EU, sondern auch von engagierten Sponsoren zur Verfügung gestellt werden müssten.

Welcher Patient kommt für eine Kunstherztransplantation in Frage? Wo befindet sich die Verteilerstelle?

Jeder Mensch, der auf eine Herztransplantation wartet, ist sicherlich prinzipiell auch ein Kandidat für eine Kunstherztransplantation. Dies hätte den Vorteil, dass man zu einem elektiven Zeitpunkt die Operation durchführen könnte. Eine Verteilungsstelle für Kunstherzen wäre nicht notwendig, da ja ausreichend Geräte vorhanden sind.

Wann, schätzen Sie, ersetzt der medizinische Roboter den Transplantationsarzt?

Ich hoffe nie. Man kann manche Dinge mit einem Roboter machen. Die Sensibilität einer chirurgischen Hand kann der Roboter aber nie erreichen. Denken Sie an die Automobilindustrie. Die teuersten und besten Autos werden immer noch mit der Hand gefertigt.

Käme bei der Herstellung von Kunstherzen auch ein 3DDrucker in Frage?

Das mag bei dem einen oder anderen Teil möglich sein, ist aber in diesem sensiblen Bereich zur Zeit nicht vorgesehen.

Wie hoch steigt Ihre Herzfrequenz, wenn Sie den frisch operierten Patienten von der Herz-Lungenmaschine abschalten und dieser selbständig mit dem Kunstherzen atmen muss?

Ich hoffe, dass sie - wie bei jedem besonderen und freudigen Ereignis - etwas höher geht und nicht aus Sorge um den Patienten steigt.

Sie sind auch sozial sehr engagiert. So waren Sie schon ein zweites Mal für die Initiative des Bad Salzufler Vereins „Brückenschlag“ in der Ukraine, um dort schwierige Herzoperationen kostenlos durchzuführen und um die dortigen Ärzte zu unterstützen. Welche Unterstützung erhalten Sie dabei von unserer Politik und/oder anderen Institutionen?

Ich bin nicht im Auftrag der Politik oder anderen Institutionen in der Ukraine gewesen. Insofern gab es keine Unterstützungen der öffentlichen Hand. Das ganze beruht auf privater Initiative.

Ein großes Hobby von Ihnen ist Fußball. Sie sind Aufsichtsratsvorsitzender des Fußballclubs Borussia Mönchengladbach. Seit mehr als 20 Jahren sind Sie dort Mitglied. Fiebern Sie immer noch mit der Mannschaft, wie zu Anfang Ihrer Fußballleidenschaft? Wie hoch schlägt Ihr Puls, wenn ein Tor für die Borussia fällt?

Ich messe normalerweise nicht meinen Puls, wenn ein Tor für Borussia fällt. Aber gehen Sie davon aus, dass die Herzfrequenz ansteigt. (Lacht) Sie sind auch mit der bildenden Kunst eng verbunden. Wir haben kürzlich zusammen mit Ihrer Frau den Foto- und Videokünstler Kanjo Také in Düsseldorf besucht.

Empfinden Sie solche Besuche als Ausgleich zu Ihrem anstrengenden, aufregenden Beruf und Ihrem Engagement für Borussia Mönchengladbach?

Ich bin sicherlich kein Experte in der Kunstszene, das kann meine Frau viel besser. Aber ich lerne durch Besuche und entsprechende Interpretationen eine ganze Menge, was ich dann auch ganz gerne an meine Mitarbeiter weiter gebe. Ich brauche eigentlich keinen Ausgleich zu meiner Arbeit als Herzchirurg, da es ja nicht Schöneres als eine Herzoperation gibt.

Danke für das Gespräch. Es war für mich eine spannende und faszinierende Reise in die Welt der Kunstherzen. Ich habe hochmotivierte und hochprofessionelle medizinisch/ technische Wissenschaftler und Mitarbeiter kennengelernt. Viele Fragen sind offen geblieben oder nicht gestellt worden. Wir werden das Gespräch aber in der folgenden Ausgabe fortsetzen und uns die Zeit nehmen, um über den Standort, die Unterstützung und Zukunft, aber auch Sorgen der Mitarbeiter im Aachener Forschungsinstitut zu berichten.


Siehe auch das Gespräch in Heft 1/2017


Kurzvita

Paul-Reiner KörferPaul-Reiner Körfer studierte Medizin an der Universität Bonn und promovierte 1969 an der Medizinischen Hochschule in Ulm. Nach dem Einstieg als Allgemeinchirurg in Oberhausen folgte 1972 der Wechsel an die Universität Düsseldorf, wo er ab 1975 in der Klinik für Thorax- und Kardiovaskularchirurgie als Oberarzt tätig war. Seine Habilitation erfolgte 1979 und seine Ernennung zum Professor für Chirurgie 1983. Ab 1984 wurde er Ärztlicher Direktor des neugegründeten Herzzentrum NRW in Bad Oeynhausen. Er war maßgeblich am Anschluss dieser Klinik an die Universität Bochum beteiligt. Nach seiner Emeritierung arbeitete er noch 2 Jahre in dieser Position und wechselte dann als Direktor in die Klinik für Herzchirurgie am Internationalen Herz- und Gefäßzentrum Rhein-Ruhr in Essen. Da er dort seine Pläne nicht durchsetzen konnte, ging er zum Evangelischen Klinikum Niederrhein in Duisburg und baute hier eine Abteilung für die Therapie der terminalen Herzinsuffizienz und Kunstherzversorgung auf. Im Übrigen ist er Ehrenbürger der Stadt Bad Oeynhausen, Träger des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse der BRD und des Verdienstordens des Landes NRW. Darüber hinaus erhielt er viele weitere Ehrungen und engagiert sich in mehreren sozialen Projekten.



Helma Wassenhoven und Evelin Theisen

„Die Landeshauptstadt hat attestiert bekommen, eine gute Gastgeberin gewesen zu sein“

Interview mit Helma Wassenhoven, Projektleitung „70 Jahre NRW – 70 Jahre Landeshauptstadt"


von Evelin Theisen

Düsseldorf feierte vom 26. bis 28. August 2016 mit der „größten Party am Rhein“ ein tolles Gemeinschaftsfest. Für diese Mammut-Organisation war sie verantwortlich: Helma Wassenhoven vom Büro Oberbürgermeister in Düsseldorf. Wie viel Vorbereitungszeit benötigt man für ein so gigantisches Fest, das nicht auf einem Festplatz stattfand, sondern sich vom Rheinufer auf vielen Straßen in die Stadt hinein erstreckte?

Die Planungen haben circa 16 Monate vor dem NRW-Tag begonnen. Im Laufe der Zeit ist die Veranstaltung dann im wahrsten Sinne des Wortes gewachsen. In den letzten Monaten vor dem Termin war das Büro dann sozusagen unser Zuhause...

Im Zentrum stand ja nicht die Landeshauptstadt allein, das ganze Land – seinerzeit von den Engländern geschaffen - begeht 2016 seinen 70. Geburtstag. Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit der Landesregierung, den anderen Gemeinden und Städten?

Ausgesprochen positiv! Es war eine wunderbare Erfahrung mit der Staatskanzlei, dem Landtag und den Ministerien zusammen zu arbeiten. Im Laufe der Zeit sind wir zusammengewachsen. Sehr angenehm war auch die Zusammenarbeit mit den Kommunen, die bei uns zu Gast waren. Mit Touristik NRW gab es einen starken Partner, der insbesondere die grünen Seiten unseres Landes aufgezeigt hat für den „Urlaub nebenan“. Aber auch die „Route der Industriekultur“ mit den Highlights des Ruhrgebiets war großartig. Uns ist einmal mehr bewusst geworden, wie vielseitig Nordrhein-Westfalen ist. Was uns sehr gefreut hat: Die Landeshauptstadt hat attestiert bekommen, eine gute Gastgeberin gewesen zu sein. Zitat einer Kollegin aus einer benachbarten Großstadt: „Gar nicht so Schicki-Micki, wie wir immer dachten.“ Das ist doch schön!

Das Fest sollte natürlich großartig, vielseitig, international und anspruchsvoll werden – durfte aber auf der anderen Seite auch nicht immens teuer sein. Wie schafft man diesen Spagat?

Mit hoher Kreativität, Angebotsvergleichen und einem klar definierten Ziel: Wir wollten Düsseldorf als liebenswerte Stadt und herzliche Gastgeberin präsentieren, mit einem heiteren Fest, über das die Gäste mit Freude flanieren sollten; eine Stadt, die zum Wiederkommen einlädt. Dazu braucht es keine riesengroßen teuren Stars, sondern engagierte Bürgerinnen und Bürger, die das Programm ehrenamtlich mitgestalten, wie die Mitglieder vieler Chöre aus ganz NRW, die sich schon Monate vorher auf dieses Ereignis vorbereitet hatten. Auch Sponsoren sind natürlich wichtig, wie beispielsweise unser Premiumsponsor Stadtwerke Düsseldorf, die den Auftritt eines solch populären Publikumsmagneten wie Culcha Candela ermöglichten.

NRW-Fest

Rückblickend war das Jubiläumswochenende heiter, sonnig, friedlich und gelungen, obwohl der Sommer 2016 von blutigen terroristischen Aktionen überschattet war. Wurden dadurch auch in Düsseldorf besondere Maßnahmen notwendig? Sind eventuell weniger Besucher gekommen, als erwartet?

Wir sind in Düsseldorf in Bezug auf Sicherheitsmaßnahmen schon seit Jahren ein Vorbild für andere Kommunen. Unsere Experten von der städtischen Feuerwehr stellen unsere Konzepte NRWweit vor, darum waren keine einschneidend anderen Maßnahmen notwendig. Insgesamt konnten wir rund 600.000 Gäste verzeichnen, eine außerordentlich hohe Zahl für eine einmalige Veranstaltung. Wir haben allerdings die Rückmeldung erhalten, das die große Hitze einige Menschen davon abgehalten hat, das Fest zu besuchen.

Gelobt wurde die große Bürgerbeteiligung bei der Gestaltung dieses Volksfestes. Es gab nicht nur Amüsiermeilen wie auf der Kirmes, sondern viele informative Einrichtungen – beispielsweise von der Feuerwehr - bei denen sich die Besucher einbringen konnten. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?

Die Einsatzbereitschaft aller war großartig. Insbesondere auf der linken Rheinseite mit der Blaulichtmeile, der Bundeswehr, dem Jugend- und Sportbereich waren viele ehrenamtliche Helferinnen und Helfer tätig. Aber auch das Brauchtum hat sich super eingesetzt. Allen war wichtig: wir wollen Düsseldorf repräsentieren!

Düsseldorf feiert gerne und gut. „Nach dem Fest ist vor dem Fest“ sagt man hier. Können Sie uns schon einen Hinweis auf ähnliche Veranstaltungen in den kommenden Jahren geben?

Jetzt steht zunächst einmal der Grand Depart im kommenden Jahr ins Haus, das größte Sportevent in 2017 - mit weltweiter Beachtung. Die Stadt Düsseldorf kann sich hier einem internationalen Publikum als das präsentieren, was sie ist - eine sportbegeisterte, sympathische Metropole und gute Gastgeberin. Und darauf freuen wir uns schon sehr.


Kurzvita

Helma WassenhovenHelma Wassenhoven wurde 1961 in Düsseldorf geboren, Studium der Sozialarbeit, seit 1987 bei der Stadt Düsseldorf tätig Mitarbeiterin im Sport- und Sozialdezernat, Schwerpunkte Fundraising, Social Sponsoring/Öffentlichkeitsarbeit. Projektleitungen: Organisation und Planung von Kongressen, Partnerjahr Welthungerhilfe/ Stadt Düsseldorf, Bürgerprogramm Eurovision Song Contest. 2001 Internationales Jahr und 2012 Europäisches Jahr der Freiwilligen. Organisationsleitung von Großveranstaltungen wie Weltkindertag, Stadtjubiläum. Seit 2014 Referatsleiterin „Bürgerschaftliches Engagement, Veranstaltungen, Social Sponsoring und Brauchtum“ im Büro des Oberbürgermeisters Thomas Geisel. 2016 Projektleitung „70 Jahre NRW – 70 Jahre Landeshauptstadt.“ Verheiratet. Lebt in Düsseldorf.



Thomas Schnalke und Siegmar Rothstein

„Der Luftverkehr in seiner aktuellen Entwicklung ist ein deutlicher Ausdruck unserer hochmobilen Bevölkerung“

Interview mit Thomas Schnalke, Sprecher der Geschäftsführung Flughafen Düsseldorf


von Dr. Siegmar Rothstein

Seit 1. Juli diesen Jahres sitzen Sie auf dem Chefsessel des Düsseldorfer Flughafens. Die Politik hat die Entscheidung des Aufsichtsrates, die Ihrer Bestellung voraus ging, einhellig begrü.t. Der Vorsitzende des Aufsichtsrates Oberbürgermeister Geisel nennt Sie einen ausgewiesenen Luftfahrtexperten. Sie selbst haben diese Aufgabe als Traum bezeichnet und wollen sie am liebsten bis zur Rente ausüben. Was haben Sie sich vorgenommen? Was sind die Schwerpunkte Ihrer künftigen Tätigkeit?

Luftverkehr ist eine sich schnell wandelnde Branche, die zudem mit vielen regulatorischen Vorgaben klar kommen muss. Mein prioritäres Ziel ist es, die Position des Düsseldorfer Airports als wichtigsten Flughafen in NRW nachhaltig zu festigen, auszubauen und gleichzeitig als integrierten Bestandteil unserer Regionen zu positionieren. Unserem Antrag auf Ausweitung der Kapazität fällt hier eine besondere Bedeutung zu. Gleichzeitig gilt es, den Flughafen ins digitale Zeitalter zu führen. Die Digitalisierung unserer Lebensumwelt wird in den nächsten Jahren auch unsere Branche verändern. Diese Entwicklung dürfen wir nicht verpassen.

Der Flughafen Düsseldorf ist der Drittgrößte in Deutschland, 2015 hat er einen neuen Passagierrekord aufgestellt; über 22 Millionen wollten ab Düsseldorf starten und in Düsseldorf landen. Offenbar ist das für Sie nicht das Ende der Fahnenstange. Sie haben bei der Landesregierung beantragt, die mögliche Kapazität der Start- und Landebahnen noch mehr nutzen zu können - statt 47 sollen demnächst 60 Flüge stündlich in den Spitzenstunden des Tages zur Verfügung stehen. Ist diese Erweiterung tatsächlich geboten? Wohin soll es führen?

Laut einer Studie der EU-Kommission sind wir einer der fünf Flughäfen in Europa mit der höchsten Übernachfrage nach Slots. Die Zahl unserer Passagiere wird in 2016 erneut stärker als der Verkehr wachsen. Gerade der Luftverkehr in seiner aktuellen Entwicklung ist ein deutlicher Ausdruck unserer hochmobilen Bevölkerung. Die Menschen in unserer Region, die übrigens der größte Wirtschaftsraum unseres Kontinents ist, möchten beweglich sein, sowohl im Alltag wie auch in der Freizeit. Für sie spielt das Flugzeug daher eine elementare Rolle. Und dieser Trend wird auch in den nächsten Jahrzehnten weiter anhalten. Aus diesem Grund benötigt unser Flughafen eine Wachstumsperspektive, damit ganz NRW an die weltweiten Verkehrsströme angeschlossen bleibt und als Bundesland nicht den Anschluss verpasst.

Sie haben wohl keine Sorge, dass die Entwicklung des Düsseldorfer Flughafens auch einmal in die andere Richtung gehen könnte. Vor nicht langer Zeit gab es Befürchtungen, dass Air Berlin den Flughafen Düsseldorf aufgibt. Dem Lufthansa Chef Spohr sind die Entgelte des Flughafens zu teuer, er setzt bei der Vielfliegerei stärker auf den Flughafen Köln-Bonn. Es wird berichtet, dass Eurowings den Verwaltungssitz nach Köln verlegt hat.

Zur Zeit erleben wir eine schnelle und sehr grundlegende Veränderung in der Airline-Welt. Was sich allerdings nicht verändert, ist die Stärke unserer Stadt und unserer Region, aus der ein stets wachsendes Bedürfnis nach internationaler Vernetzung entsteht. Dem entsprechen wir durch starke Partnerschaften mit unseren Airlines. Fakt ist, dass wir der stärkste Standort der Euro/GermanWings-Gruppe und das größte Interkont-Drehkreuz der Air Berlin sind.

Der Wunsch nach Kapazitätserweiterung begegnet erheblichen Einwendungen. Es wird vor allem zusätzlicher Lärm befürchtet. Die Fluglärmkommission lehnt Ihre Pläne ab. Wachstum braucht aber Zustimmung der Bürger. Können Sie die Bedenken der Anwohner verstehen?

Es war uns wichtig, unser Vorhaben frühzeitig und maximal transparent mit der Bevölkerung zu teilen. Das ist uns, wie ich glaube, auch sehr gut gelungen. Dass heutzutage kein Infrastrukturprojekt ohne Widerstand vorangetrieben wird, ist ein Zeichen unserer Zeit, aber auch ein Zeichen funktionierender Demokratie. Ich finde es in diesem Zusammenhang aber wichtig, auf die Verhältnismäßigkeiten hinzuweisen: Etwa 41.000 Bürgerinnen und Bürger haben im Rahmen der Öffentlichkeitsbeteiligung Einwendungen erhoben. Dies geschah vielfach über Unterschriftenlisten. In unserer Region leben jedoch allein in den Städten, die unmittelbar an unseren Flughafen grenzen, 2,8 Mio. Menschen. Im Übrigen verzeichnen wir viele Tage im Jahr, an denen mit über 80.000 Passagieren mehr als doppelt so viele Menschen unseren Flughafen nutzen. Auch das relativiert ein wenig die Zahl der Einwendungen, die erst einmal groß scheinen mag. Dennoch respektieren wir jede einzelne Einwendung. Aktuell sind wir dabei, die etwa 500 Sachargumente, die aus den Einwendungen von der Bezirksregierung herausgefiltert wurden, dezidiert zu kommentieren. Diese Stellungnahmen finden dann wieder Eingang in das Verfahren. Für Februar ist dann der Erörterungstermin vorgesehen. Grundsätzlich bekommen wir aber das Feedback aus der Region, dass die mit Abstand überwiegende Mehrheit der Menschen ihrem Flughafen positiv gegenübersteht.

Wird man die Einwendungen der Bürger ausräumen können, oder müssen letztlich die Gerichte entscheiden?

Wir befinden uns in einem offiziellen Planfeststellungsverfahren, das sehr klaren Regeln folgt. Ein wichtiger Bestandteil dieses Verfahrens besteht aus der Befassung mit den Einwendungen der Bürger. Das ist für mich ein deutlicher Ausdruck unserer demokratischen Grundhaltung. Am Ende wird das Verkehrsministerium des Landes eine Entscheidung auf Basis einer dezidierten Abwägung treffen. Die Flugrouten und -höhen sind nicht Gegenstand unseres Verfahrens und stehen daher auch nicht zur Disposition. In unserem Verfahren geht es um die Anhebung der Bewegungskapazität in den so genannten Spitzenstunden während des Tages, um die flexiblere Nutzung unseres Bahnsystems und um die Einrichtung von acht zusätzlichen Abstellpositionen.

Was halten Sie von dem Vorschlag, zusätzlichen Bedarf an Touristikflügen auf Regionalflughäfen zu verlagern, insbesondere sogenannte Billigflieger, die in Düsseldorf vermehrt abheben?

Airlines stationieren ihre Flugzeuge grundsätzlich dort, wo die Nachfrage durch die Passagiere vorhanden ist. Ein Flughafen kann dies in keiner Weise beeinflussen. Ein separates Billigflieger-Segment ist in europäischem Verkehr ohnehin nicht mehr vorhanden. Die Geschäftsmodelle der Airlines haben sich daher inzwischen komplett angeglichen. Für den Kunden sind daher die Erreichbarkeit des Flughafens und das breite Angebot an Verbindungen zum Entscheidungskriterium geworden.

Flughäfen gelten als potentielles Ziel für den Terrorismus. Man kennt die Kontrolle von Fluggästen und Gepäck. Gibt es weitere präventive Maßnahmen für die Sicherheit am Flughafen Düsseldorf? Gelegentlich hört man von Mängeln bei den Sicherheitschecks. Auch in Düsseldorf sei es Beamten gelungen, Teile einer Selbstbaubombe am Sicherheitspersonal einer Privatfirma vorbei in den Abfertigungsbereich zu bringen.

Allen Akteuren ist bewusst, dass der Luftverkehr ein Ziel terroristischer Aktivitäten sein kann. Die Anschläge auf die Flughäfen in Brüssel und Istanbul haben uns das schmerzlich vor Augen geführt. Deswegen sind die Sicherheitsstandards an internationalen Flughäfen auch höher als irgendwo anders im öffentlichen Raum. Die Bundespolizei macht hier einen sehr guten Job. Unser eigenes Sicherheitspersonal unterstützt an verschiedenen Stellen. Viele Maßnahmen erfolgen dabei im Hintergrund, ohne dass die Reisenden etwas davon erfahren.

Der Flughafen ist mehrfach für nachhaltiges Engagement im Umwelt- und Klimaschutz ausgezeichnet worden, zum Beispiel für die fortschreitende CO2 Reduzierung. Welche Maßnahmen haben Sie unternommen?

Als Flughafenbetreiber nehmen wir unsere Verantwortung beim Umwelt- und Klimaschutz ausgesprochen ernst und haben hier bereits viele Erfolge verzeichnen können. Wie übrigens die gesamte Luftverkehrsbranche, der es gelungen ist, als erste und bisher einzige Industriebranche weitreichende globale Klimaziele zu vereinbaren. So wollen wir gemeinsam den CO2-Ausstoß bis 2050 um 75 Prozent und den Anteil an Stickoxiden gar um 90 Prozent reduzieren. Die Lärmemissionen sollen im gleichen Zeitraum um 65 Prozent sinken. Als Flughafengesellschaft bauen wir gerade einen Pool an Elektrofahrzeugen auf. Wir betreiben Solaranlagen und Blockheizkraftwerke, haben die Beleuchtung im Terminal auf LED umgestellt und setzen diese Technologie auch zunehmend auf den Vorfeldflächen ein. Unser neues Zentralgebäude haben wir nach höchsten Umwelt- und Nachhaltigkeitsstandards errichtet. Im Übrigen verursacht der internationale Luftverkehr lediglich zwei Prozent der weltweiten Kohlendioxidemissionen.

In letzter Zeit haben Streiks im Luftverkehr zugenommen. Wie wirkt sich ein Streik auf die Arbeiten des Flughafens aus?

Das liegt an der relativ kleinteiligen Struktur bei den Arbeitnehmervertretungen. Die Auswirkungen auf unser Tagesgeschäft sind dabei sehr unterschiedlich. Es hängt davon ab, in welchem Teil des Systems der Arbeitskampf stattfindet und wie früh oder spät die Arbeitsniederlegungen angekündigt werden. Erfolgt die Bekanntgabe seitens der Gewerkschaft mit zeitlichem Vorlauf, sind die Passagiere informiert und disponieren anders. Ist die Vorwarnzeit allerdings zu kurz, bilden sich am Flughafen lange Schlangen. Dann werden die Passagiere Gegenstand des Arbeitskampfes. So oder so sind wir aber mit solchen Situationen vertraut und haben entsprechende Pläne, die ihren Schwerpunkt in der Betreuung der betroffenen Passagiere haben.

Im Jahre 2014 ist der Flughafen Düsseldorf von 10 Millionen Kunden des Online-Reiseportals e Dreams zum beliebtesten Flughafen der Welt – vor San Franzisco – gewählt worden. Auch sonst hat der Flughafen Düsseldorf einen sehr guten Ruf. Es gibt aber auch Kritik. So wird die schlechte Beschilderung im Flughafen beanstandet, ferner der lange Weg durch Auslagen bis zum Abflug, die teuren Parkplätze und die Gebühr für den Gepäckwagen, schließlich werden die Kosten für die drahtlose Internetverbindung kritisiert. Lässt Sie diese Art von Kritik im Hinblick auf die sonstige positive Beurteilung unberührt oder gehen Sie diesen kritischen Stimmen nach?

Die Meinung, die die Menschen von uns – zu Recht oder zu Unrecht – haben, ist unser Kapital. Deswegen sind uns auch kritische Stimmen wichtig. Jeder Beschwerdeführer bekommt von uns eine entsprechend recherchierte Antwort. Daraus erhobene Defizite und Verbesserungspotentiale werden umgesetzt. Wir haben seit Jahren einen Kundenbeirat, in dem wir unter anderem solche Servicethemen erörtern. Da, wo wir Einfluss nehmen können, versuchen wir, die Dinge zu einem besseren zu wenden. Dies gilt auch für Systempartner, auf die wir nur mittelbaren Einfluss nehmen können. Unter dem Strich bin ich davon überzeugt, dass an unserem Airport viel mehr auf der Haben- als auf der Soll-Seite steht. Dies wird uns in der Tat regelmäßig bescheinigt. Die Aufenthaltsqualität ist bei uns ausgesprochen hoch, die Wege sind kurz, das Flugangebot groß und das Serviceangebot vielfältig.

Nach dem Passagierrekord 2015 wurde ein weiterer Rekord verkündet: der Gewinn des Flughafens wurde 2015 auf 53,7 Mio. Euro gesteigert. Die Stadtspitze in Düsseldorf möchte zur Verbesserung der eigenen Bilanz so viel wie möglich von den Gewinnen Ihrer Tochtergesellschaften abschöpfen. Wie bekannt, hat das zu Konflikten geführt. Der Flughafen schüttet offenbar den gesamten Gewinn aus, sicher zur Freude der Stadt, die zur Hälfte Eigentümer des Flughafens ist. Ist der Flughafen wirtschaftlich so stark, dass Sie keine Rücklagen brauchen? Wird das so bleiben?

Unser Unternehmen ist eines der effizientesten und wirtschaftlich erfolgreichsten unserer Branche in ganz Europa und agiert auf der Basis einer gesunden Bilanzstruktur. Deshalb sind wir auch in der Lage, die wirtschaftlichen Gewinne auszuschütten. Grundlage dieses Erfolges sind in erster Linie unsere Mitarbeiter, die stets die Sicherheit und Effizienz des Luftverkehrs in Kombination mit der Nutzung der wirtschaftlichen Potentiale im Fokus haben.

Die angesprochenen Punkte zeigen, welch große Aufgabe Sie zu bewältigen haben. Hierzu dürfen wir Ihnen zum Wohle unserer Stadt viel Erfolg wünschen. Wir hoffen jedenfalls, dass es im Jahre 2027 genug Gründe für ein großes Fest geben wird, wenn der Flughafen Düsseldorf sein 100-jähriges Bestehen feiert.


Kurzvita

Thomas SchnalkeThomas Schnalke wurde 1962 in Lüneburg geboren. Nach dem Abitur 2 Jahre Zeitsoldat bei der Bundeswehr. Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nord-Ost-Niedersachsen in Lüneburg mit Abschluss Diplomkaufmann. Von 1987 bis 2001 war Schnalke im kaufmännischen Bereich bei mehreren Unternehmen beschäftigt. Im November 2001 wurde er Geschäftsführer der Flughafen Düsseldorf GmbH als - seinerzeit jüngster - Geschäftsführer eines Flughafens. Im Zeitraum Oktober 2013 bis Februar 2015 übernahm er als alleiniger Geschäftsführer die Leitung der Flughafen Düsseldorf GmbH. Ab Juli 2016 ist er Sprecher der Geschäftsführung.  Schnalke ist verheiratet und hat einen sechsjährigen Sohn



Simone Rethel und Susan Tuchel

„Theater zu spielen ist aufregend und schön“

Interview mit Simone Rethel, Schauspielerin, Künstlerin und Autorin


von Dr. Susanne Tuchel

Sie wurden als einziges Kind der Theater- und Filmfotografin Brigitte Wex und des Bühnenbildners, Designers und Malers Alfred Rethel geboren. Blieb Ihnen da überhaupt eine andere Wahl als ebenfalls Künstlerin zu werden?

Meine Eltern haben mich schon als Kind zu Ausstellungen, zu Kunsthändlern und expressionistischen Malern mitgenommen. Wir waren eine künstlerische Familie. Und als mir auf dem Gymnasium nach der Schulaufführung „Der Widerspenstigen Zähmung“ eine Lehrerin riet, Schauspielerin zu werden, entsprach das schon meinen eigenen Wünschen, war also nur noch eine Bestätigung.

Der Name Rethel ist in Düsseldorf und weit darüber hinaus bekannt. Wie sind Sie mit Alfred Rethel verwandt, der bereits mit 13 Jahren Schüler der Düsseldorfer Kunstakademie wurde und den Bundespräsident Theodor Heuss für den größten Maler des 19. Jahrhunderts hielt?

Der Düsseldorfer Maler Alfred Rethel war mein Ururgroßonkel. Ich habe mich sehr ausführlich mit der Familie Rethel beschäftigt und auch einige Nachkommen kennengelernt. Am 12. Dezember werde ich übrigens zum 200. Geburtstag des Historienmalers Alfred Rethel aus seinen Briefen lesen. „Bin ich nicht der glücklichste Mensch auf Erden?“ heißt die Lesung, die in der Universitätsbibliothek der Heinrich Heine-Universität stattfindet.

Ihre Verbindung zu Düsseldorf geht weit zurück. Wann sind Sie hier erstmals aufgetreten?

Direkt nach der Schauspielschule hatte ich ein Arrangement in der Komödie auf der Steinstraße. Die habe ich in den 60er-Jahren quasi miteröffnet. Gespielt wurde „Die Lokomotive“, und wir mussten vorher noch schnell saubermachen und saugen.

Stehen Sie lieber auf der Bühne oder vor der Kamera?

Das ist für mich völlig gleichwertig. Aber gerade jetzt bin ich sehr froh, dass ich auf der Bühne stehe. Theater zu spielen ist aufregend und schön.

Aktuell sind Sie in „Wir sind die Neuen“ im Theater an der Kö zu sehen, in einer Inszenierung von René Heinersdorff. Wie lange kennen Sie beide sich schon?

Ich kenne René schon als kleinen Jungen. Er konnte einfach alles, alles fiel ihm in den Schoß. Wir sind uns so nah, dass er im Jahr 2011 die Trauerrede auf meinen Mann Johannes Heesters hielt. René habe ich es auch zu verdanken, dass ich dann 2012 einen neuen Lebensabschnitt angefangen habe mit „Der Kurschattenmann“ im Theater am Dom Köln. Mit dem Stück bin ich vier Jahre durch Deutschland auf Tournee gegangen.

Sie sollen schon als Kind für Johannes Heesters geschwärmt haben?

Ja, ich sah ihn mit 11 Jahren in „Da Capo“ und erzählte allen Freundinnen von ihm. Jahrzehnte später lernte ich ihn kennen, weil ein Freund von mir mit ihm in dem Musical „Gigi“ zusammenspielte. Er hat uns miteinander bekannt gemacht, das war 1986. 1992 haben wir dann geheiratet.

Und damit wurden Sie so etwas wie eine Expertin des Alters. 1998 erschien Ihr Fotoband „Schönheit des Alters“, 2006 folgte der Fotoband „Johannes Heesters: Ein Mensch und ein Jahrhundert“, ein übrigens sehr spannendes Buch, das einerseits Ihren Mann zeigt und auf einer Zeitleiste die Entwicklungen beschreibt, die das Jahrhundert so nahm. 2010 erschien Ihr Buch „Sag nie, du bist zu alt“. Ein Promibuch?

Nein, gar nicht. Es ist eher ein Sachbuch. Ich habe sehr verschiedene Menschen interviewt: einen Arzt, einen Richter, einen Schreiner, einen Müllabfuhr-Mitarbeiter und viele andere. Am besten kamen die Rentner mit dem neuen Lebensabschnitt klar, die sich rechtzeitig darauf eingestellt hatten und neue Projekte in Angriff nahmen. Der ehemalige Mitarbeiter aus der Führungsetage des Luft- und Raumfahrtkonzerns EADS wurde Hausmeister, eine Dame eröffnete einen Hundesalon, manche fingen an Kuchen für Cafés zu backen. Zugegeben, der Mann, der bei der Müllabfuhr beschäftigt war, der wollte einfach nur noch seinen Ruhestand genießen und die Füße hochlegen.

Um verschiedene Lebensmodelle geht es auch in der Komödie, in der Sie zusammen mit Joachim H. Luger, Lutz Reichert, Katarina Schmidt, Florian Gierlichs und Julie Stark noch bis zum 15. Januar zu sehen sind. Sie gehören in die WG der Alt-68er. Können Sie sich mit dieser Rolle identifizieren?

Meine Eltern waren sehr offen, lasen selbst Simone de Beauvoir. Gegen was hätte ich da ankämpfen sollen? Aber es ist eine wunderbare Rolle in einem wunderbaren Stück.

Was mögen Sie an Düsseldorf und wie sehen Ihre persönlichen Auszeiten aus?

Das Viertel um den Carlsplatz mag ich sehr. Ich bin aber auch gerne in Oberkassel und besuche die vielen Museen, wenn ich die Zeit finde. Entspannen muss ich nicht, das strengt mich wie Wellness eher an. Zum Fitnesstraining gehe ich aber schon. Und da ich so viel unterwegs bin, bin ich dann am liebsten in meinem Haus am Starnberger See.


Kurzvita

Simone RethelSimone Rethel stand schon als 16-jährige Schülerin als „Die fromme Helene“ mit Theo Lingen und Friedrich von Thun vor der Kamera. Ihre Ausbildung begann sie in München an der Schauspielschule von Hanna Burgwitz. Schon ein Jahr später holte sie ihr Mentor, einer der bekanntesten deutschen Schauspieler, Filmregisseure und Autoren der Nachkriegszeit, Axel von Ambesser, an das Bayerische Staatsschauspiel. Sie spielte im Thalia in Hamburg, war auf vielen Boulevard-Bühnen und in zahlreichen TVSerien zu sehen wie „Der Kommissar“, „Der Alte“, „Derrick“, „Tatort“, „Diese Drombuschs“, „Stubbe – von Fall zu Fall“ und zuletzt in „Die Garmischcops“. Ihr zweites Talent ist die Malerei. Seit 1975 stellt sie deutschlandweit ihre Öl- und Hinterglasbilder, Tuschezeichnungen und Aquarelle aus. Ihr drittes Talent ist die Fotografie. Hier porträtiert sie vor allem Schauspielkollegen. Dies auch in ihrem eigenen Fotostudio, dem Simoneum. Aktuell steht sie in „Wir sind die Neuen“ im Theater an der Kö auf der Bühne.



Christian Theisen und Mohammadi Akhabach

„Ein großer Vorteil ist, dass die Start-up-Szene Düsseldorfs noch überschaubar ist“

Interview mit dem Unternehmer Mohammadi Akhabach


von Christian Theisen

Herr Akhabach, neulich haben sie 2.500 Briefe an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Polizei geschrieben und sich für deren Arbeit bedankt. Wie kam es dazu?

Anstoß war ein Erlebnis mit einer Polizeistreife während einer Fahrt ins Büro. Der Kontakt mit der Beamtin war sehr freundlich und angenehm. Für mich wurde darin deutlich, dass die Polizisten hierzulande ihre Pflichtensehr vorurteilsfrei wahrnehmen und wirklich Gutes für die Bürger tun. Dafür wollte ich mich einfach dankbar zeigen. Deshalb habe ich einen Brief geschrieben und diesen an rund 2.500 Dienststellen versandt. Persönlich unterschrieben übrigens.

Es gab viel positive Resonanz, auch wegen Ihres nordafrikanischen Hintergrunds. Gab es auch negative Reaktionen?

Nein! Ich kann mir auch nicht vorstellen, von wem die hätten kommen sollen. Von Nordafrikanern…?

Ihre Familie kam vor vielen Jahren aus Marokko nach Deutschland. Sie haben hier in Deutschland dann aus eigener Kraft erfolgreiche Unternehmen gegründet und Geschäftsmodelle entwickelt. Inzwischen sind Sie ein gefragter Investor und Experte. Inwieweit profitiert Deutschland von Biographien wie der Ihren und welche Schlüsse kann man daraus ziehen?

Ganz allgemein profitiert Deutschland von jedem Menschen, der eigene Ideen hat, diese in die Tat umsetzt und Wachstum erzeugt. Das hat zunächst mal nichts mit der Herkunft zu tun. Wenn es Ihnen aber speziell um diesen Faktor geht, dann möchte ich es folgender maßen ausdrücken, und ich hoffe, das klingt jetzt nicht nach dem alten „Vom Tellerwäscher zum Millionär-Lied“: Ich glaube, ich konnte zeigen, dass man trotz schwierigerer Startbedingungen mit Einsatz und Kreativität viele Pläne verwirklichen und Erfolg haben kann. In aller Bescheidenheit hoffe ich, dass so eine Biographie An sporn für Menschen jeder Herkunft sein kann. Vielleicht besonders für jene, die aus Familien mit dem sogenannten „Migrationshintergrund“ stammen. Es geht, man muss es halt wagen. Und übrigens: Ich war nie Tellerwäscher!

Ihre Unternehmensgründungen wie zum Beispiel Lieferheld und Book-a-Tiger sind über Deutschland hinaus bekannt und immer wieder in der Presse. Ihre Deutsche Seniorenwerbung hingegen ist eher unauffällig, obwohl ebenfalls sehr erfolgreich. Was macht unternehmerisch mehr Spaß?

Spaß machen beide Unternehmensfelder, glauben Sie mir. In allem, was wir machen, arbeiten wir schließlich mit dem Faktor Zukunft. Bei den Internet-gestützten Firmen ist es spannend, die Potenziale des Mediums mit- und weiterzuentwickeln. Bei der Seniorenwerbung liegt der Reiz in der stetig wachsenden Zielgruppe. Und die unternehmerischen Herausforderungen sind letztlich überall die gleichen: Potenziale entdecken, Chancen ergreifen, Mut haben. Mir fällt es schwer, einem unserer Unternehmen in Bezug auf solche Anforderungen den Vorzug zu geben.

Senioren sind nicht nur aufgrund der demographischen Entwicklung in Deutschland eine interessante Zielgruppe. Sie ist mobil, kaufkräftig und konsumorientiert. Welche Potentiale sehen Sie in der Zukunft?

Ich glaube, wir bewegen uns hier in einem wirklichen Wachstumsmarkt. Das Schöne ist: Es wird immer mehr ältere Menschen geben, die sich nicht alt fühlen – und es eigentlich auch nicht sind. Meine Prognose ist: Sie werden einen größeren Teil ihres verfügbaren Einkommens für sich selbst nutzen, statt das Geld an Nachkommen zu verteilen. Einfach, um schöne Dinge zu genießen oder zu erleben, für die während des Erwerbslebens keine Zeit war. Wenn wir dieser Zielgruppe die richtigen Angebote in Punkto Freizeit, Genuss, Gesundheit machen, mache ich mir um unseren Erfolg keine Sorgen.

Berlin ist nicht mehr länger Europas Start-up-Metropole Nummer 1. Gleichzeitig versuchen Städte wie Hamburg und Düsseldorf verstärkt, eine Start-up-freundliche Infrastruktur und Unternehmenskultur zu schaffen. Was sind Ihrer Meinung nach die Voraussetzungen für den Erfolg eines solchen Unterfangens?

Das ist natürlich ein langer Weg, auf dem Düsseldorf eher am Anfang steht und Hamburg vielleicht schon ein paar Schritte zurückgelegt hat. Aber Düsseldorf muss nicht verzagen. Wichtig ist erstmal, dass die Stadt die Potenziale der Start-up-Economy erkannt hat. Und ein paar Pluspunkte gibt´s ja auch: Düsseldorf liegt nah am Ruhrgebiet und seinen Universitäten, wo sich viel Kreativpotenzial und Internationalität ballt. Auch zu den Niederlanden und nach Belgien – wo es virulente Szenen gibt – ist es nicht weit. Klar, die Einhörner hausen immer noch in Berlin, auch weil die Hauptstadt per se mehr Anziehungs- und daraus folgend Strahlkraft besitzt. Aber unsere Region holt auf, dessen bin ich mir sicher.

Sie sind wegen Ihrer Unternehmensbeteiligungen oft in Berlin und kennen die dortige Szene. Welche Schwerpunkte könnte Düsseldorf setzen, um sich von Berlin und anderen Start-up-Hubs abzusetzen?

Ein großer Vorteil dieser Stadt ist, dass die Start-up-Szene noch überschaubar ist. Das heißt auch: Der Zugang zu Kapital und öffentlichen Dienstleistungen, etwa zur Wirtschaftsförderung der Stadt, sollte leichter sein. Hier wirst du eben noch nicht an jeder Ecke durch die Konkurrenz weggebissen. Das sollten sich gerade junge Entrepreneurs aus dem Ruhrgebiet durch den Kopf gehen lassen. Wenn Sie weg wollen aus dem Ruhrgebiet – muss es dann immer Berlin sein? Nein, meine ich. Düsseldorf hat viel Geld, ist deutlich wohlhabender als Berlin. Das eröffnet Chancen für Neuansiedlungen kleiner, virulenter Ideenschmieden. Wenn die Szene erst mal ihre kritische Größe erreicht hat – das heißt: in Berlin und Hamburg als Konkurrenz wahrgenommen wird – dann wird die Stadt quasi magnetisch für weitere Gründer.

Welche Ratschläge können Sie jungen Unternehmern oder denen, die es werden möchten, geben?

Man sollte sich ein paar Fragen stellen und diese so ehrlich wie möglich beantworten. Nämlich: Taugt die Idee für die Marktdurchdringung, ist sie gut? Erwische ich den richtigen Zeitpunkt für den Markteintritt? Gibt es überhaupt einen Markt, ist er groß genug? Das alles wird in einem guten Business-Plan sowieso abgefragt, insofern kommt man daran nicht vorbei. Wichtiger ist vielleicht: Man sollte so sehr für seine Idee brennen, dass andere – vor allem Kapitalgeber – das Leuchten wahrnehmen. Dann sollte man mit dem Geld dieser Leute oder Gesellschaften gewissenhaft und rechtschaffen umgehen. Okay, auch eine Selbstverständlichkeit… Wenn´s geht, sollte man sich doppelt so viel Kapital besorgen, wie man braucht – das schafft Luft fürs Überleben in der Anfangsphase. Letztlich muss man fokussiert bleiben und die richtigen Leute als Mitstreiter finden. Alles nicht ganz leicht, schon klar. Aber wichtig!

Gibt es aktuelle Projekte, über die Sie etwas verraten können? Vielleicht das nächste Einhorn – diesmal aus Düsseldorf?

Ich bin Unternehmer, weil es mir Spaß macht, etwas zu unternehmen, also gibt es natürlich neue Pläne und Projekte. Darüber reden? Nein, das geht noch nicht. Deshalb auch „sorry“ an dieser Stelle: Ich kann zurzeit noch nicht bestätigen, dass wir in Düsseldorf starten. Aber dass wir über die Stadt als Standort intensiv nachdenken, sollte nach unserem Gespräch – so hoffe ich – deutlich geworden sein.


Kurzvita

Mohammadi AkhabachMohammadi Akhabach wurde 1979 als Sohn von Kaufleuten in Marokko geboren. Nach seiner Ausbildung zum Werbekaufmann absolvierte er ein Studium der Kommunikationswissenschaften und verspürte schon während erster beruflicher Tätigkeiten den Drang, Dinge des täglichen Bedarfs und durch Kommunikation und Services das Leben der Menschen einfacher zu gestalten. 2001-2003 Projektleiter bei der Firma Ulm Marken Promotion in Lüdenscheid. 2003-2005 Key Account Manager bei der Deutschen Hochschulwerbung in Düsseldorf. Dort mitverantwortlich für die Einführung des Studententarifs o2 Genion in Deutschland. 2005-2007 Projektleiter für Sonderthemen außerhalb des Printgeschäfts im UNICUM-Verlag 2007 Gründung eines sozialen Netzwerks für Vereine (zusammen mit den Ruhrnachrichten als strategischem Investor). 2009 Gründung der Agentur ‚Beziehungsweise GmbH’ (Neuss), Spezialist für Zielgruppen- und Dialogmarketing. 2010 Gründung der ‚Deutsche Seniorenwerbung’ (DSW; Neuss), Spezialist im Bereich der Zielgruppenansprache 50plus, die mit ihrem Sampling-Produkt Glückstüte® bekannt geworden ist. 2010 Mitgründer des Online-Services ‚Lieferheld’, dort Geschäftsführender Gesellschafter für Marketing und Sales. Seit 2012 Investitionen in verschiedene Start-ups, z.B. ‚rent-a-guide GmbH’, ‚Fanzeit GmbH’, ‚bookatiger.com’ und Gründer der ‚Österreichischen Seniorenwerbung GmbH’. Durch seinen Sitz in verschiedenen Gremien zur Unterstützung junger Start-ups profitieren Nachwuchstalente immer wieder von der Expertise und dem Netzwerk des erfolgreichen Unternehmers.



Thomas Geisel

Gastbeitrag des Oberbürgermeisters


von Thomas Geisel

Liebe Leserinnen und Leser,

70 Jahre Nordrhein-Westfalen – 70 Jahre Landeshauptstadt – 70 Jahre Miteinander. In diesem schönen Dreiklang haben Hunderttausende in Düsseldorf Ende August den runden Geburtstag des Landes Nordrhein-Westfalens gefeiert. Wie der NRW-Tag in beeindruckender Weise zeigte, ‚können‘ die Menschen in Nordrhein-Westfalen – und natürlich die Düsseldorfer – feiern. Unsere schöne Stadt am Rhein bot dafür die beeindruckende Bühne.

Doch auch der Alltag lässt erkennen, dass die Briten 1946 als ‚Geburtshelfer‘ des neuen Landes die richtige Wahl trafen, als sie gleichzeitig Düsseldorf zur Landeshauptstadt bestimmten. Düsseldorf hat seine Rolle als erfolgreiche Hauptstadt des bevölkerungsreichsten Bundeslandes längst angenommen. Das Verhältnis von Landesregierung und Landtag auf der einen und dem Rathaus auf der anderen Seite ist gut und die Zusammenarbeit gestaltet sich partnerschaftlich – auch wenn eine weitere Vertiefung der Beziehungen immer wünschenswert ist.

Wir alle haben das Glück, in einer junggebliebenen, liebenswürdigen und höchst lebenswerten Stadt zu wohnen. Düsseldorf zieht die Menschen an. Das beweisen das Bevölkerungswachstum und die hohe Geburtenrate. Wir können das als Zuspruch werten und uns darüber freuen, dürfen wir uns doch sicher sein, vieles richtig zu machen.

Doch dieser Erfolg darf nicht verspielt werden. Das fängt beim Wohnungsbau an und hört nicht bei den notwendigen Investitionen in die städtische Infrastruktur auf. Eine wachsende Stadt wie Düsseldorf braucht mehr Wohnungen, andere Verkehrslösungen – zum Beispiel sollten wir verstärkt auf Radwege setzen – und natürlich ausreichend Klassenräume für die Schulkinder. Das gehen wir in Düsseldorf endlich an, setzen die richtigen Rahmenbedingungen und investieren massiv.

In der Vergangenheit hat Düsseldorf gezeigt, dass es Strukturveränderungen zu gestalten und sich immer wieder von Neuem zu erfinden weiß, ohne jedoch geschichtsvergessen zu sein. Wenn wir aktuell Existenzgründer und Start-ups fördern, heben wir das kreative Potenzial und der gesamte Standort gewinnt. Auch bestehende Unternehmen werden von diesem innovativen Geist angesteckt und können vom Austausch mit jungen Firmen profitieren.

Ideenreich und kreativ ist Düsseldorf ganz besonders im Bereich der Kunst und Kultur. Vor genau 60 Jahren ging die Deutsche Oper am Rhein in die erste Spielzeit. Die ‚Opernehe‘ mit Duisburg hat sich seit 1956 insgesamt als Erfolgsgeschichte erwiesen. Auch das Düsseldorfer Schauspielhaus, von Stadt und Land gemeinsam getragen, blickt mit dem neuen Generalintendanten Wilfried Schulz in die Zukunft. Phantasievoll bespielt das Theater während der Umbauphase fast die gesamte Stadt. Wie die Hochkultur, braucht die Kultur- und Kreativwirtschaft in Düsseldorf Raum zur Entfaltung. Mit einem entsprechenden Kompetenzzentrum fördert die Stadt Kunstinitiativen und -vereine, auch der freien Szene, und erhöht ihre Wahrnehmung.

Die Erfolgsgeschichte Düsseldorfs geht weiter. Bereits im kommenden Jahr blickt die Welt gleich mehrfach auf Düsseldorf, wenn hier mit der Tour de France und der Tischtennis-Weltmeisterschaft die zwei größten internationalen Sportereignisse im Jahr 2017 stattfinden. Zum ersten Mal seit 30 Jahren startet die Tour de France wieder in Deutschland. Damit rückt Düsseldorf in den Fokus der – nicht nur sportbegeisterten – Weltöffentlichkeit. Und bei uns vor Ort verschafft das Event über den Tag hinaus dem Sport wie dem Radverkehr in Düsseldorf nachhaltigen Rückenwind. Freuen wir uns darauf!

Ihr

Thomas Geisel
Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Düsseldorf


Alexander Besel

Das Künstlerportrait: Alexander Besel


von Evelin Theisen

Direkt und konfrontativ, aber auch spielerisch und ironisch tritt die Kunst Alexander Besels dem Betrachter gegenüber. Dabei strahlen seine Werke eine enorme Freude an der Verschiebung gewohnter Wahrnehmungsprozesse und der Entdeckung neuartiger Darstellungsformen aus. Kräftige Farben mit oftmals starken Farbkontrasten bestimmen seine Bildschöpfungen und tauchen sie in eine satte, teils leuchtende Farbigkeit, die zusammen mit dem kraftvollen Ausdruck und der undogmatischen Sicht auf die Alltagswelt das Wesen seiner Kunst widerspiegeln. Mit diesem ›verschrobenen‹ Blick legt Besel etwas Fremdes in unsere altbekannte Umgebung und taucht die Wirklichkeit der kleinen, trivialen Dinge in ein neues Licht. In der unmittelbaren Begegnung mit seiner Malerei erleben wir das uns Vertraute als neuartiges und ungewöhnliches Ereignis.


Kommentar zu „Kiss“ von Dr. Roland Held:

Alexander Besel - Kiss

Vor tachistisch geflecktem Hintergrund die Köpfe eines voll Leidenschaft ineinander versunkenenen Paars, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten: hier Blumen, Mars, Weltzerstörung, Thanatos; hier Yin, dort Yang. dort Waffen; hier Cosmeen-Auge, unverdorbene Natur, Floralik, Venus, Weltschöpfung, Eros, dort Revolver-Ohr, industrielle Zivilisation, Metallic, Gegensätze, dennoch so unwiderstehlich voneinander angezogen wie Partikel Materie und Antimaterie. Welcher Slogan wohl erschallt, wenn sie endgültig miteinander in weißglühendem Nichts verschmelzen: Make Love Not War? Make Wave Not Lor? Lake Nave Wot Mor?


Wie sein Lehrer Jörg Immendorff, dessen Meisterschüler er an der Kunstakademie Düsseldorf war, verpflichtet sich Alexander Besel in seiner Kunst ganz der figurativen Malerei. Dabei zeichnen sich seine Arbeiten vor allem durch die unermüdliche Erprobung neuer Rezeptionsstrategien aus, mit denen er für die mimetischen Bildformen neue Ausdruckspotentiale bereitstellt und mit denen er sich auf sehr unterschiedlichem Wege seinem zentralen Thema – dem Menschen – nähert. Im Vordergrund steht oftmals die Auseinandersetzung mit der eigenen, menschlichen Existenz. Neben Darstellungen existenzialistischer Situationen und Identitätsfragen, dominieren besonders die, die den Menschen in seinem Alltagsleben reflektieren. 
Dr. Dagmar Thiesing


Ausstellungen (kleine Auswahl)

2016 Collection of Russian Museum, Málaga, Spain Realism 21 St.century, russian Museum,Russia
2015 Affordable Art Fair Maastricht, Galerie Vögel Art Karlsruhe, Petr Kern, Heidelberg
2014 „Das Fremde im Vertrauten“ Galerie Maximilian, Darmstadt
2013 „Born to fly.and crowl“ Russisches Museum, St. Petersburg, Russland
2012 „ Contemporary Art 1950–2011“ Palazzina GIL, Rom Italien
2011 „Russia Today“ Nadja Brykina Gallery, Zurich, Schweiz
2008 „The Power of Water“ Russisches Museum, St. Petersburg, Russland
2007 „Poesie des Wassers“ Palais Lumiere, Evian, Frankreich
2004 Museum Tivat, Montenegro
2001 Emprise Art Award, NRW Forum, Lacoste Kunst Award,
2000 Art Miami 2000, Galerie Casteel, Miami, USA


Vita

1993–1996 Hochschule für Bildende Künste-Städel Frankfurt am Main
1996–2001 Kunstakademie Düsseldorf
2001 Meisterschüler von Prof. Jörg Immendorff



Jürgen Büssow und Garrelt Duin

„Wir müssen mit unserer Struktur- und Förderpolitik sehr viel stärker auf den innovativen Mittelstand setzen“

Gespräch zwischen NRW-Wirtschaftsminister Garrelt Duin und Regierungspräsident a.D. Jürgen Büssow


von Jürgen Büssow

Büssow: In der Presse wurde zuletzt über den Produktivitätsrückstand von NRW berichtet. In der gewerblichen Industrie sind Baden-Württemberg und Bayern mittlerweile sogar stärker. Wie können wir auf so etwas reagieren?

Duin: Wir arbeiten derzeit an einem Jahreswirtschaftsbericht NRW. Es zeichnet sich ab, dass wir Einbrüche im Bereich der industriellen Produktion und bei den Exporten haben. Die Marktanteile unserer Unternehmen, die in der Grundstoffindustrie tätig sind, haben sich deutlich verringert. Das gilt zwar für Gesamtdeutschland. Allerdings hat Deutschland einen Anteil von 18 Prozent, NRW aber von 30 Prozent. Dazu kommt verstärkt das Thema Energiewirtschaft. Der Anteil der konventionell erzeugten Energie ist in den letzten Jahren aufgrund des Ausbaus der erneuerbaren Energie massiv zurückgegangen. Von den vier großen Energieunternehmen sitzen alleine zwei in NRW, deshalb spüren wir das auch in besonderer Weise. Auch viele kleinere Unternehmen sind betroffen, bis hinein in die Stadtwerkelandschaft. Zusätzlich gibt es einige wenige Sondereffekte, wie die Schließung des Opel-Werkes und die Restrukturierungen im Einzelhandel – Stichwort Karstadt. Das sind alles Dinge, die andere Länder so nicht haben. Darum hat sich NRW vom normalen Bundesdurchschnitt wieder entfernt. Interessant ist dann die regionale Analyse. Wir haben wirkliche Wachstumsregionen und andere, die schwierig sind. Ostwestfalen-Lippe und Südwestfalen sind ganz hervorragend. Auch das Ruhrgebiet entwickelt sich überraschenderweise überdurchschnittlich. Aber im bergischen Städtedreieck und am Niederrhein sieht die Situation nicht so rosig aus.

Büssow: Nun gut, das ist die Wirtschaftsstruktur. RWE können wir als Entschuldigung auch nicht mehr gelten lassen. Die Energiewende hat sich ja schon länger abgezeichnet.

Duin: Die ist übrigens eine privatwirtschaftliche Struktur. Manchmal wird der Eindruck erweckt, dass wir entscheiden, in welchen Unternehmen in welchen Branchen investiert wird. Baden-Württemberg und Bayern haben den riesigen Vorteil, dass dort sehr innovative und innovationstreibende Industrien sitzen. Die Automobilwirtschaft hat nach wie vor einen großen Anteil und natürlich die Elektronikindustrie, bis hin zur Luftfahrt. Wir haben das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt, aber keine Produzenten wie Airbus. Der Branchenmix ist ein grundlegend anderer als in anderen Bundesländern und das führt zu solchen Ergebnissen. Das heiß nicht, dass man das nicht ändern könnte. Sondern genau da muss man ansetzen – und in unserer Struktur- und Förderpolitik nicht auf wenige Große setzen, die früher die Struktur dieses Landes in erster Linie bestimmt haben, sondern sehr viel stärker auf den innovativen Mittelstand. Ein ganz praktisches Beispiel: Es nützt nichts, die Schließung des Opel-Werkes zu betrauern. Entscheidend ist, die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass am Tag nach der Schließung der Bagger kommt und Platz macht für Neues.

Büssow: Auf dem Opel-Gelände hat sich nun DHL angesiedelt und die Parkverwalter sind natürlich froh darüber. NRW-Verkehrsminister Groschek sagte kürzlich in einem Interview, Logistik wäre jetzt ganz wichtig für NRW. Aber die Wertschöpfungskette bei der Logistik ist nicht so groß. Wenn wir circa 40 Prozent für die Eigenversorgung brauchen, dann sind 60 Prozent Transferlogistik. Wir stellen Flächen mit Containern zu und werden zum Parkplatz für Rotterdam, weil die Kapazitätsprobleme haben. Der Hafen Duisburg wird auch immer größer und belegt wertvolle Gewerbeflächen. Ist das der richtige Weg für die Zukunft, dass wir den nächsten Schwerpunkt auf Logistik setzen? Ist das nicht wieder eine Monostruktur?

Duin: Logistik ist auch aufgrund von Veränderungen in der Industrie zu einem sehr eigenständigen Zweig geworden. Früher war in vielen Industrieunternehmen die Verteilung der Waren Teil des Unternehmens. Das ist sie heute aber nicht mehr. Da ist viel outgesourct worden, was wir jetzt als eigenständige Branche wiedererkennen. Ich glaube, dass die wertschöpfende Logistik ein ganz wesentlicher Bestandteil der Zukunft unseres Landes ist. Wir sind eine Drehscheibe für den ganzen europäischen Raum und es ist nicht so, dass hier nur leere Container stehen. Logistik ist ein neuer Teil der Wertschöpfungskette geworden durch Veränderungen in der Industrie, aber auch im Handel. Wir müssen darauf achten, dass Logistik auf den Flächen stattfinden kann, es aber nicht zu einer Monostruktur kommt. Genau das machen wir zum Beispiel in Bochum, indem die DHL als Ankerinvestor dort auf diese Flächen geht, die Politik aber Sorge dafür trägt, dass nicht die gesamte Fläche ausschließlich mit Logistik zugestellt wird. Es sollen sich auch Industrieunternehmen ansiedeln können und wissenschaftsnahe Ansiedlungen in Kooperation mit der Ruhr-Universität stattfinden. Das gilt nicht nur für Bochum. Diesen Kompromiss kann man vor Ort planerisch gestalten, wir als Landesregierung können ihn begleiten. Das tun wir auch.

Büssow: Düsseldorf ist nun auch ein Start-up-Hub geworden, Köln und Teile des Ruhrgebietes sind in Bewegung. Aber die Start-ups sind hauptsächlich im Dienstleistungsbereich unterwegs. Das ist gut und kommunal kann man da viel helfen. Aber ist das jetzt eine industrielle Erneuerung? Sind das industriebezogene Start-ups? Ich habe den Eindruck, dass was man ‚Disruptive Innovation’ nennt, hier noch nicht so verbreitet ist.

Duin: Viele Start-ups sind nicht so publikumswirksam. Natürlich kennen wir alle Trivago, weil das unseren Alltag betrifft. Wenn jemand aber eine Plattform für den Stahlhandel entwickelt, dann bekommen wir die als Normalbürger nicht zu sehen. Trotzdem ist das die gleiche Innovation, die sowohl das Verhältnis von Industrie zu ihren Kunden als auch die Produktionsprozesse selbst grundlegend verändert. Unser Alleinstellungsmerkmal wird die Nähe zum produzierenden Gewerbe sein. In Berlin gibt es so gut wie kein produzierendes Gewerbe, aber hier noch in weiten Teilen des Landes. Die ersten großen nordrheinwestfälischen Unternehmen gründen ihre Digitalschmieden nicht in Berlin, sondern hier in NRW, wie beispielsweise das Unternehmen SMS aus Düsseldorf. 

Büssow: Voest Alpine errichtet jetzt ein Entwicklungszentrum auf dem Böhlergelände für 3D-Druckverfahren auf Metallbasis.

Duin: Der Chef von Phoenix Contact, einem ganz wichtigen Unternehmen aus NRW und weltweit aktiv im Bereich der Elektroindustrie, hat nach einem USA -Besuch gesagt: „Die Amerikaner haben das Internet, aber wir haben die Dinge.“ Das heißt, wenn es um das Internet der Dinge geht, haben wir einen starken Standortvorteil und können ein wirkliches Alleinstellungsmerkmal herausbilden. Deswegen haben die Hubs nicht nur die Funktion, ein Ort zum Gründen von Start-ups zu sein. Sie sollen auch dem industriellen Mittelstand, der keine eigene Abteilung und Experten dafür vorhält, die Möglichkeit bieten, sich kundig zu machen. Wir haben hier den Begriff „Rent a Nerd“ geprägt: Man muss den Mittelständlern die Gelegenheit geben, ohne viele Schwellenängste hier vor Ort in Kontakt mit sehr kreativen jungen Leuten zu kommen, die sich das Geschäftsmodell und die Produktion anschauen und sagen, welche Transformationsleistung und Investitionen in den nächsten Jahren benötigt werden.

Jürgen Büssow

Büssow: Unser industrieller Mittelstand ist meist in der Zuliefererposition gegenüber Systemherstellern. Wenn das Elektroauto wirklich kommt, werden zwei Drittel der Automotivindustrie überflüssig, denn das Auto wird mit reduziertem Equipment fahren. Wie geht man damit um? Die Mentalität bei uns ist ja die, dass VW sagt, die Kupplung muss billiger sein, sonst sind wir nicht mehr wettbewerbsfähig. Dann wird der industrielle Mittelstand 10 oder 20 Prozent besser. ‚Disruptive Innovation’ meint aber, dass man bestehende Geschäftsmodelle angreift, um sie zu ersetzen. Diese Mentalität haben wir nicht in Deutschland. Wir wollen alles perfekt machen, aber wir können uns nicht infrage stellen. Heute kommen diese Erneuerungen aus dem Ausland – aus Silicon Valley und zunehmend auch aus Asien. Haben Sie als Landeswirtschaftsminister so etwas im Fokus? 

Duin: Ein Gegenbeispiel: Die Deutsche Post wird ihre Pakete auf der letzten Meile mit Elektroautos ausliefern. Die Post war gezwungen, diesen Street- Scooter selber herzustellen, weil in der Tat große Teile der Automobilindustrie sich nicht in der Lage sahen oder Willens waren, in dieses Geschäft einzusteigen. Das ist sehr destruktiv, denn wenn die Deutsche Post zum Automobilhersteller wird, dann verändert sich etwas in dieser Republik. Das Auto wurde in Aachen entwickelt und wird auf dem Gelände eines ehemaligen Wagon-Werks der Firma Talbot, die den Standort schon geschlossen hatte, hergestellt. Und genauso funktioniert eben Transformation. Büssow: Darüber muss man öffentlich reden. Duin: Deswegen war bei dem ersten Start nicht nur ein Postvorstand, sondern auch der Wirtschaftsminister dabei, denn das ist unser Projekt. Nebenbei ist die Post als ein super starkes Unternehmen auch in NRW beheimatet. Bei der Frage der Elektromobilität bin ich nach wie vor davon überzeugt, dass sie stark ansteigen, aber es keinen hundertprozentigen Ersatz geben wird. Wir haben mittlerweile bundesweit die meisten Ladesäulen, es geht voran. Trotzdem werden wir auch weiterhin den Diesel und effiziente Benziner haben.

Büssow: Ja, aber wir haben nicht mehr die Größenordnungen, das ist der Punkt. VW macht beim Golf nur 1,7 Prozent Rendite und das nur wegen der großen Absatzzahl. Wenn das reduziert wird, dann kommen auch die in Schwierigkeiten, wenn sie nicht umstellen.

Duin: Deswegen überlegt so ein VW mittlerweile, vielleicht ein eigenes Batteriewerk zu etablieren.

Büssow: Mercedes und Siemens wollen jetzt flachere Hierarchien in 20 Prozent ihrer Unternehmen einführen. Gleichzeitig wollen sie ‚Disruptive Innovation’ zulassen, was bei Google Firmenkultur ist. Das müssten wir verbreiten, diesem Denken müsste man eine Stimme geben. Das könnte ein Wirtschaftsminister ja gut. Er kann das nicht alles finanzieren. Aber diese Vision kann man doch unterstützen.

Duin: Das tun wir auch, aber ohne das bisherige Erfolgsmodell in den Mülleimer zu werfen. Wenn ich mir die erfolgreichen sogenannten Hidden Champions in NRW angucke, da gibt es keine Diskussion über große Veränderungen in den Hierarchieebenen, weil ...

Büssow: ... die sind schon flach ... 

Duin: Und die waren auch schon immer flach. Da haben Sie drei Ebenen: der Chef als Eigentümer, ein paar Abteilungsleiter und die Mitarbeiter. Ich bin fast jede Woche bei solchen Unternehmen – in der letzten Woche bei Bettermann im Sauerland, ein absolutes Welt-Unternehmen, aber mit großer Familientradition in der vierten oder fünften Generation, das sich immer weiter entwickelt und innovativ ist. Die Frage ist eine kulturelle: Will ich Innovation oder den letzten Tropfen aus der alten Zitrone herauspressen? Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten gelegentlich geschaut, was die Zitrone noch hergibt.

Büssow: Es gibt Überlegungen im Düsseldorfer Raum, einen Industriepark zu entwickeln, um ingenieurtechnische Start-ups anzusiedeln, die zusammen mit den ingenieurwissenschaftlichen Fakultäten Firmen gründen. Dort soll sich aber auch die ansässige Industrie – vielleicht mit kleinen Labors – zeigen. Oben drüber steht groß „Henkel Research Cooperation“ oder „Thyssen Research Cooperation“. Die Konzerne müssen nicht ihre letzten Betriebsgeheimnisse offenbaren, aber sich committen und es unterstützen, indem sie Präsenz zeigen. Dann kommen Gründer und auch Uni-Institute. So könnte man vielleicht politisch etwas anstoßen. Nicht, indem das alles öffentlich subventioniert wird. Risikokapital- Fonds könnten helfen. Die haben wir in Deutschland zu wenig. Im Vergleich: USA 54 Mrd. USD, alleine aus Silicon Valley 26 Mrd. USD, EU 11 Mrd. EUR und Deutschland 3,1 Mrd. EUR. Das ist nicht viel.

Duin: Wir wollen nicht nur über Bochum reden, aber der damalige Rektor der Ruhr-Uni hat in der Phase der Werksschließung dort das Modell „Worldfactory“ mit entwickelt. Uni, Industrie, Handwerk und Start-ups sollen dort unter ein Dach. Da ist richtig Druck dahinter, dass wir dieses Ding umsetzen. So etwas brauchen wir nicht nur an einem Ort, denn wir sind ein polyzentrisches Land ...

Büssow: Wir brauchen das in Duisburg,

Duin: ... in Düsseldorf, in Aachen ...

Büssow: Und die können und sollen sich untereinander vernetzen.

Duin: Absolut. Das müssen Orte sein, wo es viel Freiheit gibt. Das ist ganz wichtig, um Dinge auszuprobieren. Das können wir mit anschieben, auch durchaus in der Anfinanzierung. Wir liegen mit öffentlichen Investitionen für Innovationen quasi auf Bundesschnitt. Wir liegen bei den privaten Investitionen meilenweilt hinter beispielsweise Baden-Württemberg oder Bayern. Ich bin gerne bereit, mir jede Schuld aufzuladen, die hier auch korrekterweise abzuladen ist, aber wenn ich mir dieses Investitionsverhalten nordrheinwestfälischer Unternehmen angucke, dann ist das auch deren Verantwortung. 

Büssow: Da ist eine ganz große Kluft zwischen nordrheinwestfälischen Unternehmen und eben den süddeutschen.

Duin: Ein Bereich, in dem wir ganz gut sind, ist zum Bespiel die Pharmazie bzw. Spezialchemie. Der Bayer-Konzern befasst sich mittlerweile nicht mehr mit der klassischen Chemie. Bayer hat noch zwei Sparten, nämlich Düngemittel/Landwirtschaft und Pharmazie. Und da investieren sie zum Beispiel in Wuppertal. Es geht um eine millionenschwere Investition in ein neues Forschungslabor für ein neues Medikament. Der Vorstand konnte entscheiden zwischen Berkley in den USA und Wuppertal. Die Strategie von Evonik ist auch, Spezialchemie herzustellen. Wir brauchen diese Spezialisierung. Und genau dasselbe macht Bayer im Landwirtschaftsbereich – Stichwort Monsanto – auch wenn das gesellschaftlich immer wieder umstritten ist. Das sind diese innovativen Bereiche und wir müssen dafür genügend Lehrstühle bereithalten und die entsprechenden Institute hier ansiedeln, damit Nachwuchs entsteht. Das sind die Zukunftsaufgaben.

Büssow: Es wäre gut, wenn die ansässige Großindustrie mitmacht, nicht unbedingt alles finanziert, aber sich committed, dass sie diese Kultur unterstützt. Damit neue Geschäftsmodelle, neue Prototypen entwickelt und hier im Land ausprobiert werden können und nicht aus den USA oder Asien kommen müssen. Solche Parks müssten sogar international angelegt werden, damit sich auch Start-ups aus China oder Tel-Aviv interessieren. Wichtig ist auch, dass IT und Konstruktionsingenieure zusammenarbeiten. Auf der Hannover-Messe habe ich gesehen, dass der deutsche Maschinenbau in der Robotisierung ziemlich gut ist. Es war aber auch zu sehen, dass immer mehr IT-Steuerungsprogramme aus Amerika kommen. Microsoft sucht den Kontakt zur Deutschen Industrie. Es ist gut, wenn internationale Software-Häuser mit deutschen Herstellern zusammenarbeiten, aber wir dürfen die Steuerungsfähigkeit über die eigenen Produkte nicht verlieren, meine ich. 

Duin: Ja, und deswegen sind solche Projekte wie „it’s OWL“ in Ostwestfalen- Lippe so wichtig. Da ist verstanden worden, wie Industrieunternehmen mit Universitäten und Start-ups erfolgreich kooperieren und Wissen teilen. Das ist für die deutsche Unternehmenskultur kompliziert, für Familienunternehmen erst recht – aber nur so entstehen Innovationen. Sie erfordern gemeinsame Plattformen, über die man sich austauscht. Dafür ist „it’s OWL“ wirklich eine Blaupause. Ein sehr plastisches Beispiel ist Claas. Der Landmaschinenkonzern stellt nicht nur auf der Hannover-Messe aus, sondern auch auf der Cebit, weil die Steuerung eines landwirtschaftlichen Gerätes, eines Treckers oder eines Mähdreschers mittlerweile satellitengesteuert ist. Das denke ich mir nicht alleine im Kreis Gütersloh aus, sondern das mache ich, indem ich mir viele hoch-potente Partner suche. Diese Satellitensteuerung, die am Ende bei uns auf den Kohlfeldern zum Einsatz kommen kann, ist auch deswegen sehr wichtig, weil sie uns Exportchancen eröffnet. Das Thema Welternährung ist ein totales Mega-Thema.

Büssow: Da sind wir aber schnell im Bereich der Bio-Genetik.

Duin: Noch sind wir bei der Steuerung eines Treckers. Der weiß, wann der nächste Regenschauer kommt. Das ist für den Landwirt eine enorme Erleichterung. Es verteuert das Endprodukt kaum, macht diese Technologie aber sehr attraktiv. Ostwestfalen ist da echt ein Vorbild für andere, weil es um Kooperation geht, um das Teilen von Wissen.

Büssow: Kollaboration nennen die das jetzt. Zum Stichwort Biogenetik: Wir haben mit dem Max-Planck-Institut in Köln eines der besten Pflanzungsforschungsinstitute der Welt. Aber es gab auch große Akzeptanzschwierigkeiten wegen ihrer Forschung in der Öffentlichkeit.

Duin: Wir werden uns entscheiden müssen, ob wir glauben, dass wir angstfrei den Wohlstand erhalten sollen. Es geht nicht darum, in unkalkulierbare Risiken hineinzugehen. Aber es geht schon um ein bisschen mehr Freude am Probieren, am Erforschen neuer Dinge ...

Büssow: Und was wir damit machen, ist ja auch eine zweite Frage.

Duin: Ja klar, da können wir immer noch politisch klare Grenzen setzen. Die Atomkraft ist ein gutes Beispiel dafür, wie man politisch Sachen für erledigt erklären kann. Aber die Forschung gerade in Bereichen wie Gentechnik ...

Büssow: Ich finde es auch besser, dass sie hier in Deutschland stattfindet, wo es Veröffentlichungspflichten gibt, und wo wir darüber diskutieren können, ob wir die Forschungsergebnisse auch anwenden wollen als wenn diese Forschung etwa in Nordkorea oder in Russland erfolgt. Worüber wir gerade reden, löst bei den Menschen auch viele Befürchtungen aus, was die Globalisierung und die Automatisierung der Arbeitswelt angeht, wenn befürchtet werden muss, dass viele Arbeitsplätze nicht mehr gebraucht werden. In solche Innovationsparks gehören eigentlich auch Sozialwissenschaftler und Arbeitsrechtler. Neue Arbeitsmarkt- und Arbeitszeitmodelle müssen entwickelt werden. Die Sozialwissenschaften sind nicht nur die Hilfstruppe der Ingenieurwissenschaften, sondern sollen auch den Entstehungsprozess begreifen und mitgestalten. Würden Sie auch dafür plädieren?

Garrelt Duin

Duin: Wir sind das einzige Land, das eine Allianz „Wirtschaft und Arbeit 4.0“ hat. Als Landesregierung wollen wir mit drei Gruppen diskutieren: den Wissenschaftlern, also auch Arbeitswissenschaftlern und Sozialwissenschaftlern, den Arbeitgebern und den Gewerkschaften. Diese deutschlandweit einmalige Institution macht es sich zur Aufgabe, mit solchen Fragestellungen sehr intensiv umzugehen: Wie verändert sich die Arbeitswelt? Wie verändert sie sich dahingehend, dass wir gar nicht viel weniger Leute brauchen, aber ganz andere Qualifikationen? Mit welchen Abschlüssen und welchen Qualifikationen kann ich diesen Herausforderungen künftig gerecht werden? 

Büssow: Welche anderen Arbeitszeitmodelle haben wir? Wie ist das mit den Sozialversicherungen, den Rentenversicherungen? Ob wir eine Maschinensteuer brauchen oder eine andere Steuer, wird man sehen.

Duin: Das einzige, was ich für mich selbst ausschließen würde, ist das Modell eines bedingungslosen Grundeinkommens. Ich glaube, dass Arbeit einen Wert hat, der über das Erzielen von Einkommen hinausgeht.

Büssow: Dann müssen wir Arbeit aber auch anbieten. Dann muss Arbeit für alle da sein. Wenn man jetzt kein Ingenieur ist und als junger Mensch in die Arbeitswelt geht, dann werden sehr häufig erst einmal Zeitverträge angeboten. Und das auch von der Landes- und den Kommunalverwaltungen Das ist natürlich auch kein tolles System. Das macht viele junge Leute unsicher. Wie wollen junge Frauen eine Familienplanung machen, wenn sie nur Zwei-Jahres-Verträge maximal bekommen?

Duin: Das verstehe ich. Ich glaube, dass sich das in den nächsten Jahren umkehren wird. Wir werden einen Arbeitnehmermarkt bekommen und alle Arbeitgeber, inklusive des öffentlichen Dienstes, werden sich mit großer Flexibilität um die zur Verfügung stehenden Menschen bemühen müssen.

Büssow: Wenn die Unternehmen dann nicht drohen auszulagern.

Duin: Ich mache jetzt seit 17 Jahren hauptberuflich Politik, Sie noch länger. Die Liste an Gründen, mit denen Unternehmen mit Abwanderung gedroht haben, ist lang. Das langweilt mich.

Büssow: Mit der Robotisierung wird das Lohnargument auch nicht mehr so wichtig. Es sei denn, dass die Unternehmen in den Auslandsmärkten präsent sein müssen.

Duin: Wir haben auch in den siebziger Jahren einen Riesenschub an Automatisierung in den Betrieben gehabt. Ich selber komme aus der Region Emden. Ich weiß sehr genau, wie viele Menschen dort vor der Einführung der Roboter gearbeitet haben und wie viele heute dort beschäftigt sind, nachdem wirklich ein maximaler Grad an Automatisierung vorhanden ist. Die Arbeit hat sich komplett verändert und die Produktivität ist natürlich massiv gestiegen. Die Anzahl der Beschäftigten dort ist aber nahezu gleich. Insofern sollte man nicht so viel Angst vor Robotisierung haben. Viele Tätigkeiten, die vorher körperlich kaum durchzustehen waren, werden natürlich auch deutlich erleichtert.

Büssow: Wir müssen halt nur die Arbeit richtig und gerecht verteilen, damit die Menschen von ihrer Arbeit leben können.

Duin: Unbedingt.

Büssow: Bundeswirtschaftsminister Gabriel hatte Ende 2015 vorgeschlagen, einen Infrastrukturfonds zu bilden. Für die Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur brauchen wir – je nach Institut – 136 bis 200 Mrd. EUR in den nächsten fünf Jahren. Unsere Ruhrgebietskommunen sind unterfinanziert und können nicht einfach Geld aufnehmen. Hillary Clinton hat im Wahlkampf angekündigt, dass sie als Präsidentin 247 Mrd. USD investieren möchte, weil die Infrastruktur in den USA ebenfalls marode ist. Sollte man Herrn Gabriel nicht politisch unterstützen? Das könnte auch korrespondieren mit der Nullzins-Politik von Herrn Draghi. Das Kapital wird angelegt, und wir erleben eine Modernisierung. Warum packen wir das nicht an?

Duin: Erste Frage: Warum soll ich als Staat, der sich von allen Marktteilnehmern am besten refinanzieren kann, Private in diese Finanzierung mit hineinnehmen, die dann natürlich irgendeine Form von Rendite erwarten? Zweite Frage: Gibt es tatsächlich bei der klassischen Infrastruktur zur Zeit ein Finanzierungsproblem? Angesichts eines durchfinanzierten Bun desverkehrswegeplanes, der so dick ist wie noch nie zuvor – mit dem größten Anteil für NRW nebenbei gesagt. Das heißt, die Projekte sind finanzier bar. Aber wir haben ein anderes Problem. Es dauert alles viel zu lange. Das Geld ist da, aber es kann gar nicht abfließen, weil Genehmigungs- und Planungsverfahren zehn Jahre dauern. Ich sehe das als das dringendste Thema an. Es muss – auch im internationalen Vergleich – möglich sein, zwischen Idee und Fertigstellung einen Zeitraum von nur wenigen Jahren vergehen zu lassen.

Büssow: Von sechs Monaten!

Duin: Wir sind ein Rechtsstaat und deswegen muss auch jeder seine Einwendungen machen können. Es muss aber in einer Instanz schnell entschieden werden, ob es irgendwelche ökologischen oder anderen Einflüsse gibt, und dann muss das zügig gehen.

Büssow: Können wir da nicht einmal eine Enquete-Kommission beauftragen? 

Duin: Da braucht man keine Enquete- Kommission, sondern das muss man einfach nur durch entsprechende Initiativen im Bundesrat – die Herr Groschek übrigens gerade vorbereitet – auf den Weg bringen.

Büssow: Bei den Bauordnungen auch. Wir haben eine Bundesbauordnung. Darunter haben wir noch Länderbauordnungen, die diese noch einmal verschärfen.

Duin: Es ist der nackte Wahnsinn, was wir uns erlauben. Ich bin sehr offen für öffentlich-private Partnerschaften und kann mir das in manchen Bereichen durchaus vorstellen. Die Infrastruktur-Kommission von Herrn Gabriel hat auch verschiedene Modelle ermöglicht. Mir ist nur wichtig, dass das am Ende nicht Modelle sind, bei denen sich eine im Ausland gesteuerte AG alle Aufträge unter den Nagel reißt. Wir brauchen auch eine Mittelstandskomponente, denn die Bauwirtschaft ist mittelständisch und die muss daran partizipieren können. Was die kommunale Infrastruktur betrifft, legen wir jetzt gerade ein Programm für die kommunalen Schulen auf. 2008/2009 gab es bereits zwei große Konjunkturpakete. Um die noch vorhandenen Lücken zu schließen, werden wir in den nächsten vier Jahren zwei Milliarden Euro an die Kommunen geben. Aktuell sehe ich eher das Problem der zu langen Genehmigungsverfahren als das der zu schlechten Finanzierung.

Büssow: Auch der Brandschutz und die Wärmedämmungsvorschriften sollten einmal evaluiert werden. Wir geben bis 2050 dafür 200 Mrd. EUR aus. Das könnte man auch in Batterietechnologie investieren. Aber da stehen Lobbygruppen dahinter und die verteuern den Wohnraum.

Duin: Es muss unser Ziel sein, dass wir – sowohl was Genehmigungsverfahren als auch Standards angeht – die Rahmenbedingungen so entschlacken, dass wir schnell bezahlbaren Wohnraum bekommen.

Büssow: Damit die einkommensschwächere Bevölkerung nicht an die Stadtränder verdrängt wird.

Duin: Das ist erkannt und die dafür zur Verfügung gestellten Mittel wurden jetzt auch noch einmal aufgestockt. Wir haben zum Beispiel um den Landesentwicklungsplan lange gestritten. Ich weiß, dass sich da manche noch mehr gewünscht hätten, aber wir haben immerhin eine Flexibilität von 20 Prozent eingebaut, die nicht an irgendetwas gebunden ist für die Suchräume. Das war schon ein harter Kampf.

Büssow: Wenn Leben und Arbeiten wieder ein bisschen mehr zusammenkommen, ist das auch schön.

Duin: Ich glaube, dass das Thema Stadtentwicklung lange unterschätzt wurde in Bezug auf die Art und Weise, wie qualitativ hochwertig unser Leben eigentlich ist.