22. August 2019In 2019/3

„Die Mobilität der Zukunft vernetzt die verschiedenen Verkehrsträger“

Interview mit Henrik Wüst, Minister für Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen


von Dr. Siegmar Rothstein

Sie sind seit zwei Jahren Verkehrsminister des Landes Nordrhein-Westfalen. Das Verkehrsministerium gilt als eines der schwierigsten Ressorts. Die Straßen sind überlastet, überall wird über große Staus und Chaos auf den Autobahnen geklagt. Was unternimmt die Landesregierung, um Abhilfe zu schaffen?

Wir investieren Rekordsummen in die Sanierung, die Modernisierung und den bedarfsgerechten Ausbau der Infrastrukturen. Es gibt mehr Geld und mehr Personal für Planung, Genehmigung und Bau. Allein im letzten Jahr sind fast 1,4 Milliarden Euro in unseren Autobahnen, Bundesstraßen und Landesstraßen verbaut worden. Die Bahn investiert genauso viel Geld in das Schienennetz in Nordrhein-Westfalen. So bringen wir unsere Infrastruktur in Ordnung. Das Gute ist, dass die gesamte Landesregierung hinter den Maßnahmen steht. Das war unter der rot-grünen Landesregierung anders.

Wenn umfangreich gebaut wird, entstehen zusätzliche Baustellen und weitere Staus. Wird etwas unternommen, die Arbeit auf den Baustellen effektiver zu gestalten, mit dem Ziel, sie zügiger abzuwickeln?

Ja, wir haben einen 8-Punkte-Plan beschlossen, um Baustellen zu beschleunigen und besser zu koordinieren. Wir nehmen über 20 Millionen Euro in die Hand allein dafür, dass Baustellen schneller fertig werden. Damit können wir nach derzeitigem Stand insgesamt 296 Wochen Bauzeit sparen. Drei Baumaßnahmen sind bereits 44 Wochen schneller fertig geworden. Außerdem haben wir in der Verkehrszentrale Leverkusen eine Stabstelle für Baustellenkoordination eingerichtet. Ziel ist es, Baustellen auf Straßen und Schienen untereinander transparent zu machen. So sollen gegenseitige Beeinträchtigungen möglichst verhindert oder zumindest minimiert werden. Darüber hinaus nutzen wir die Chancen der Digitalisierung. So setzen wir zur Stauvermeidung Verkehrsbeeinflussungsanlagen oder Dynamische Wegweiser mit integrierter Stauinformation ein. Wo möglich, geben wir Standstreifen für den laufenden Verkehr frei, wie zum Beispiel auf der A3, der A4, der A57 und zukünftig auf der A52. Und wir bauen mehr an Wochenenden und in der Nacht. Ziel ist es immer, die Verkehrseinschränkungen durch Baustellen soweit wie möglich zu reduzieren und das anzugehen, was die Leute am meisten ärgert: Wenn sie in der Baustelle stehen und da passiert nichts.

Im Wahlkampf haben CDU und FDP die Verkehrssituation auf den Straßen in NRW heftig kritisiert. Die Probleme sind aber immer noch so groß, dass sie nicht in wenigen Jahren gelöst werden können. Müssen Sie nicht befürchten, dass nunmehr Ihnen im nächsten Wahlkampf die Staus vorgeworfen werden?

Der Unterschied ist, dass wir die Probleme bei den Infrastrukturen anpacken: Es wird schneller und mehr geplant, genehmigt und gebaut in Nordrhein-Westfalen. Ohne Baustellen bringen wir unsere Infrastruktur nicht in Ordnung. Das Gute ist: Danach wird es besser. Ich denke, die Menschen sehen, dass sich etwas bewegt im Land.

Sehen Sie Möglichkeiten, Teile des Güterverkehrs auf Schiene oder Wasserstraßen zu verlagern?

Ja, daran arbeiten wir. Wir haben die Förderung der nicht bundeseigenen öffentlichen Eisenbahnen wiedereingeführt. Das sind Gleisanschlüsse, die Industrie- und Gewerbebiete an die Hauptstrecken der Bahn anschließen. Damit bekommen wir mehr Güter von der Straße auf die Schiene. Außerdem setzen wir uns für den Schienenausbau nach Rotterdam und Antwerpen ein. Was die Wasserstraße angeht, ist die Situation ähnlich wie bei Straßen und Schienen. Viele Schleusen, Brücken und Schiffsanlegestellen sind marode. Zuständig für die Wasserstraßen ist allein der Bund. Deswegen habe ich mich beim Bund erfolgreich für einen „Aktionsplan Wasserstraßen“ für Nordrhein-Westfalen eingesetzt. Wir werben jetzt dafür, dass wichtige Projekte schnell angegangen und strukturiert umgesetzt werden. Ein erster Schritt ist gemacht: Die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung an nordrhein-westfälischen Standorten bekommt 15 zusätzliche Stellen. Damit kann schneller geplant werden.

Auch die Bahn ist überfordert, die Züge sind oft unpünktlich. Der Bund beabsichtigt, Milliarden in die Erneuerung des Bahnverkehrs zu investieren. Welche Auswirkungen hat das für den Bahnverkehr in unserem Land?

Die Bahn und der Bund haben ein Modernisierungsprogramm für die Schiene über 86 Milliarden vereinbart. Das ist eine Hausnummer und der richtige Schritt. Davon wird auch Nordrhein-Westfalen, das das dichteste Schienennetz hat, massiv profitieren. Damit der Verkehrssektor seine CO2-Ziele erreicht, muss Deutschland wieder Bahnland werden. Das geht nur, wenn die Bahn auch wieder stärker in der Fläche präsent ist. Gerade in ländlichen Regionen gibt es zu oft keine vernünftige Alternative zum Auto.

Es wird immer wieder gefordert, den öffentlichen Personenverkehr zu stärken, um die Straße zu entlasten. Es wird vorgeschlagen, Tickets stark zu verbilligen und sogar den öffentlichen Nahverkehr kostenlos anzubieten. Wäre das lösungsgerecht?

Das Problem des ÖPNV sind die Kapazitäten. Die Pendlerzüge sind schon heute rappelvoll. Wir kommen nur voran mit besserer Mobilität und besserem Klimaschutz, wenn wir den Menschen ein besseres Angebot machen. Das heißt Ausbau der Infrastruktur und Reaktivierung von Bahnstrecken. Der kostenlose ÖPNV nutzt nur denen, wo es schon ein Angebot gibt. In meiner Heimatstadt Rhede zum Beispiel hat seit 40 Jahren kein Zug mehr gehalten. Da hat dann keiner was von einem kostenlosen Ticket.

Sind Sie optimistisch, dass es mittelfristig gelingen wird, eine zufriedenstellende moderne Verkehrsinfrastruktur zu schaffen. Wie sieht die Mobilität von morgen aus?

Mobilität wird vielfältiger. Die Mobilität der Zukunft vernetzt die verschiedenen Verkehrsträger. Bei der Vernetzung steht immer der Nutzen für den Kunden im Fokus. Der Nutzer entscheidet selbst, welches für ihn das jeweils beste und sinnvollste Angebot ist. Er will eine leistungsstarke Mobilitätskette, die seinen jeweiligen Bedarf schnell, komfortabel und zuverlässig abdeckt. Deswegen fördern wir zum Beispiel Mobilstationen, die das Rad, das Auto, die Bahn und Sharing-Angebote verknüpfen.

Darüber hinaus nutzen wir auch die Chancen der Digitalisierung für einen besseren ÖPNV. Die Leute steigen nur auf Bus und Bahn um, wenn das Angebot attraktiv ist. Das fängt schon beim Ticketkauf an. Gerade die junge Generation lässt uns die Unübersichtlichkeit bei den Tarifen und Tickets nicht mehr durchgehen.

Sie können heutzutage zwar vom Sofa aus per App eine Weltreise inklusive Flug, Hotel und Mietwagen in Australien buchen. Aber versuchen Sie mal, am Automaten ein Ticket von hier nach Euskirchen zu buchen – dann wird’s interessant. Deswegen wird es eine App für alle Tickets in Nordrhein-Westfalen geben. Zum ersten Mal werden alle Tickets der Verbünde und der Bahn gebündelt und in einer App buchbar.

Die Digitalisierung wird unsere Mobilität aber auch in anderen Bereichen verändern. Wir nutzen die Chancen der Digitalisierung auch für innovative Technologien wie das automatisierte Fahren. Der Weg hin zum komplett fahrerlosen Fahren ist noch weit, aber wir sind auf dem Weg dahin gut unterwegs. Es gibt viele gute Ansätze und Projekte, die uns diesem Ziel näherbringen. Auf dem Aldenhoven Testing Center (ATC) wird auf einem geschlossenen Testgelände alles untersucht, was auch der echte Straßenverkehr zu bieten hat: Haltestellen, Zebrastreifen, Fußgängerampeln, Kreisverkehre, Ein- und Ausfahrten. In Monheim soll Ende des Jahres ein echter Linienbetrieb mit automatisiert fahrenden Kleinbussen im 10-Minuten-Takt starten.

Und wir unterstützen zudem mit 1,5 Millionen Euro ein Testfeld für autonome Binnenschifffahrt. Es ist viel in Bewegung.

Aktuell beschäftigt sich die Öffentlichkeit intensiv mit Maßnahmen zur Erhaltung unseres Klimas. Auch der Verkehrssektor ist betroffen. Wie verfolgen Sie die Debatte über die CO2-Ziele?

Die Debatte braucht mehr Ehrlichkeit. Mehr als 60 Millionen Tonnen CO2 im Verkehrssektor einzusparen, kann gelingen. Allein das Verteuern von Emissionen wird aber nicht zum Erreichen dieser Ziele führen, wenn die alternativen Angebote nicht da sind. Pendler, die mit dem Auto unterwegs sind, durch höhere Kosten zum Umsteigen auf die Bahn zu zwingen, wird nicht funktionieren. Selbst dann nicht, wenn die Bahn billiger wird. Die Idee kann nur von Leuten kommen, die in Großstädten leben, wo bei allen Unzulänglichkeiten des Personennahverkehrs immerhin einer vorhanden ist. Was machen denn die, die dort leben, wo kein Zug mehr hält, auch der Bus sie nicht zur Arbeit bringt und die Strecke fürs Fahrrad zu lang ist? Für sie müssen bessere, sauberere Alternativen her, wenn man dem „kleinen Mann“ nicht nur in die Tasche greifen will.

Was schlagen Sie vor?

Deutschland muss wieder Bahnland werden. Die Mehrwertsteuer auf Bahntickets zu senken ist zu wenig. In Deutschland wurden mehr als 5.000 Kilometer Bahninfrastruktur abgebaut. Wir brauchen mehr attraktive Schnellstrecken, Bahnreaktivierungen und eine Stabilisierung des vorhandenen Netzes durch Modernisierung und Digitalisierung. Um die Autos wieder sauberer zu kriegen, brauchen wir mehr Forschung in die Entwicklung klimafreundlicher Antriebe wie Elektro, Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe. Das sind nur zwei ganz zentrale Elemente von vielen anderen. Die Mobilität im Export- und Transitland Deutschland sauberer zu machen, hat die Dimension der ersten Mondlandung. Sie erfordert enorme Anstrengungen, wird aber auch Innovationen freisetzen. Eine alleinige Verengung der Debatte auf eine neue Steuer oder Bepreisung wird nicht die notwendige Aufbruchsstimmung erzeugen.

Zum Schluss ein ganz anderes Thema: 

Hat die CDU nach Ihrer Ansicht in der großen Koalition das Konservative vernachlässigt, das Sie schon 2007 als Generalsekretär angemahnt haben? Seinerzeit haben Sie sich zu einem „modernen bürgerlichen Konservatismus“ bekannt. Werden Sie Ihre Gedanken wieder in die politische Diskussion einbringen?

Eine erfolgreiche CDU muss auf Grundlage des christlichen Menschenbildes breit aufgestellt sein. Das gilt heute wie damals. Ich glaube aber, dass wichtiger als die abstrakten Debatten das konkrete Arbeiten an Problemlösungen ist. Der demokratisch legitimierte Staat muss an vielen Stellen an seiner Handlungsfähigkeit arbeiten, sonst droht er ganz grundlegend Zustimmung zu verlieren. Selbst völlig unstreitige Planungen dauern noch immer zu lang. Wir tun hier im Land alles Mögliche, um zu beschleunigen, und ich mache auch auf Bundesebene Vorschläge dazu, weil viele Menschen sich sonst nicht mehr nur von einzelnen Parteien abwenden.

Dass wir in der inneren Sicherheit den kriminellen Clans auf die Füße treten, war dringend nötig. Dass in der Schulpolitik mit erkennbaren Erfolgen an Unterrichtsqualität gearbeitet wird und die ideologischen Debatten aus rot-grüner Zeit beendet sind, all das ist wichtig, um Vertrauen in Politik zurückzugewinnen.


Kurzvita

Hendrik WüstHendrik Wüst wurde 1975 in Rhede/Westfalen geboren. Studium der Rechtswissenschaften in Münster, 2003 zweites juristisches Staatsexamen und Zulassung als Rechtsanwalt, 2004 bis 2005 tätig für die Unternehmensberatung Eutop, 2006 bis 2010 Generalsekretär der CDU in NRW, von 2010 bis 2017 führte er die Geschäfte des Zeitungsverlegerverbandes Nordrhein-Westfalen und der Pressefunk GmbH & Co. KG, 2014 bis Juni 2017 Geschäftsführer der dein.fm Holding GmbH & Co. KG. Bereits vor seinem Abitur wurde Wüst 1994 Stadtverordneter im Rat der Stadt Rhede und blieb es bis 2009. 2000 bis 2006 Landesvorsitzender der Jungen Union in NRW, 2002 bis 2012 Beisitzer im Bundesvorstand der CDU, seit 2005 ist Wüst für seine Heimat direkt gewählter Abgeordneter des Landtages NRW, 2010 bis 2017 wirtschaftspolitischer Sprecher seiner Fraktion, seit 2013 Landesvorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung CDU NRW, seit 30. Juni 2017 Minister für Verkehr des Landes Nordrhein Westfalen. Er lebt in Rhede im Münsterland, ist Jäger, seine weiteren Hobbies sind Sport, gutes Essen und Krimis.


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